Rezension

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Die Geschichte davon, wie ein Opfer sich wehrt...

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los - Anna B., Kerstin Dombrowski

Ich werde die Bilder im Kopf nicht los
von Anna B. Kerstin Dombrowski

Bewertet mit 5 Sternen

Dieses Buch setzt sich mit der Qual der Missbrauchsopfer auseinander, die diese nach dem Missbrauch erleben. Sie fühlen sich schmutzig, beschämt, haben häufig Flashbacks – kurz: es ist ihnen unmöglich, ein Leben mit einer „guten“ Lebensqualität zu führen. Dieses Schicksal bleibt ihnen unter anderem verwehrt, weil der Täter nicht seine gerechte Strafe erfährt. Zusätzlich wird das Opfer oft so unter Druck gesetzt, dass es sich gar nicht traut, sich jemandem anzuvertrauen, weil ihm „doch eh nicht geglaubt werden würde“. Zusätzlich kommt noch das Ohnmachtsgefühl dazu, dass das Opfer sich schuldig fühlt, weil es sich nicht ausreichend gewehrt habe und es so doch möglicherweise auch selbst gewollt habe.

Das Buch ist recht kurz, geht aber auf das Wichtigste ein. Anna B. entscheidet sich hier, den Missbrauch ihres Stiefvaters anzuzeigen, nachdem ihr Chef auf ihre Selbstverletzungen aufmerksam geworden war. Es fällt ihr zunächst extrem schwierig, die Zügel in die Hand zu nehmen und zweifelt immer wieder an der Richtigkeit ihrer Entscheidung. Wirkliche Unterstützung scheint sie zunächst von niemandem zu bekommen.

Das Buch beschreibt sehr gut die Entwicklung von Anna und wie sie an den Herausforderungen dieses Prozesses wächst. Sie hat einige Rückschläge, aber auch viele Lichtblicke. Vor allem knüpft sie Kontakte zu „Gleichgesinnten“. Besonders gut ist die Beziehung zu ihrer Mutter dargestellt und wie sich diese durch den Prozess entwickelt.  Diese war schon immer sehr instabil seit der Beziehung mit dem Stiefvater, allerdings führen die ganzen Verhandlungen zu einem gänzlichen Abbruch des Kontaktes seitens der Mutter. Insgeheim hatte Anna immer die Hoffnung, dass sie dann auf sie bauen kann, wird dann aber doch bitter von ihr enttäuscht.

Durch die retrospektiven Einschübe bekommt man einen allumfassenden Umblick in Annas Leben und kann nicht anders, als mit ihr zu leiden. Man sieht hier vor allem, wie vernichtend sexuelle und physische Übergriffe für das Leben eines jeden Menschen sind und ihn systematisch zerstören können. Es ist ein Appell an jeden Menschen, sich mehr mit dem Thema auseinanderzusetzen. In dieser Geschichte taucht auch eine Lehrerin auf, die schon früh darauf aufmerksam geworden war, dass etwas bei Anna nicht stimmt. Allerdings blieb sie nicht hartnäckig genug und verschlimmerte durch ihr Eingreifen die ganze Situation nur. Indirekt macht Anna ihr das immer wieder zum Vorwurf, dennoch wird ihr beherzigtes Engreifen auch immer als positiv angesehen, weil sie wenigstens handelt – so, wie es jeder Mensch tun sollte.

Auch wenn es natürlich entsetzlich ist, dass Anna durch den Prozess ihre Mutter wirklich verliert, finde ich es gut und wichtig, dass diese Geschichte nicht eine „Happy End“ – Geschichte ist, sondern wirklich realitätsnah zeigt, was für Verluste man teils eingehen muss, um wieder zu sich selbst zu finden und ein eigenständiges Leben führen zu können. Gut wurde auch dargestellt, was für eine Qual die Opfer durchleiden müssen, bis es überhaupt zur Anklage kommt aufgrund von elendig langen Schilderungen über den Missbrauch, die immer und immer wieder erzählt werden müssen. Dadurch entsteht selbstverständlich auch das Gefühl, dass einem niemand glaubt.

Alles in allem ist diese Geschichte wirklich empfehlenswert. Sie tastet sich behutsam an ein empfindliches Thema heran und bringt einen zum Nachdenken. Alles in allem hat sie mir super gefallen und mich sehr berührt. Einen winzigen Kritikpunkt habe ich allerdings, nämlich das Urteil. Ihr Stiefvater bekommt über zehn Jahre – was selbstverständlich gerechtfertigt ist. Leider sind solch hohe Strafen in Deutschland enorm selten. Ich finde es aber in Ordnung, dass das Urteil für die Geschichte ein wenig hochgesetzt wurde, um vielleicht auch Leser, die Opfer eines Missbrauchs waren, zu ermutigen, sich gegen ihre Täter zu wehren und sie verdienterweise hinter Gitter zu bringen!