Rezension

„Die Geschichte einer gestohlenen Kindheit und eines im Innersten verletzten Mädchens“.

Splitterfasernackt - Lilly Lindner

Splitterfasernackt
von Lilly Lindner

Bewertet mit 5 Sternen

Splitterfasernackt

Inhalt

Im Alter von 6 Jahren wird Lilly Lindner das erste Mal von Ihrem Nachbarn missbraucht. Ihren Eltern gegenüber schweigt sie, sie würden ihr doch nicht glauben. Nehmen sie ihre Tochter doch sowieso nicht wahr.

Als der Mann eines Tages wegzieht, hat er Lilly mehrmals geschunden und ihre Seele ist zerstört. Lilly beginnt zu hungern, denn sie ist sicher, wenn sie nur wenig genug wiegt, dann bleibt fast nichts mehr von ihr übrig.

Nach einigen Heimaufenthalten und einer Weile in einer psychiatrischen Klinik, in die Lilly sich auf eigenen Wunsch hat einweisen lassen, zieht Lilly mit 17 Jahren in eine eigene Wohnung. Sie hungert weiter, essen kann sie längst nicht mehr. Und wenn sie doch einmal ein wenig isst, dann zwingen Ana und Mia in ihrem Kopf sie dazu, das wenige gleich wieder zu erbrechen. Denn leicht geht doch alles viel leichter …

Lilly entschließt sich in einem Berliner Edelbordell zu arbeiten, weil sie denkt, dass ihr Körper ihr schon so lange nicht mehr gehört. Vielleicht schafft sie es so, wieder zu sich selbst zu finden?

***

Meinung und Zitate

„Die Geschichte einer gestohlenen Kindheit und eines im Innersten verletzten Mädchens“.

„Ein provozierendes Buch von ungeheurer sprachlicher Wucht“, so sagt es der Klappentext. Solche reißerischen Sätze werden oft in Kurzbeschreibungen verwendet, um die Leser zum Kauf zu animieren. Nun, provozierend würde ich diese wirkliche Geschichte nicht nennen, eher erschütternd. Jedoch ist die „sprachliche Wucht“ wirklich gegeben.

Ich bin zufällig auf dieses Buch gestoßen, als ich in der Buchhandlung gestöbert habe. Ich habe noch nie eine Autobiographie gelesen, schon gar keine eines Missbrauchsopfers. Warum habe ich das Buch gekauft? Ich kann es nicht beantworten. Vielleicht war das nette liebliche Gesicht Lillys auf dem Cover der Grund. Oder auch, weil ich beruflich leider öfters mit solchen schlimmen Fällen konfrontiert werde?

Es wird nicht möglich sein, mit einer Rezension diesem Buch so voller Grausamkeit und doch soviel Gefühl gerecht zu werden. Wir erleben als Leser die schlimmste seelische Pein, die Lilly durchlebt, aber auch Momente voll tiefer Freundschaft durch die wenigen Menschen an Lillys Seite, die sie akzeptieren, wie sie ist und natürlich versuchen, ihr zu helfen.

Es ist gleichzeitig seltsam und absolut verständlich wenn Lilly schreibt, dass sie sich gerade im Bordell bei den anderen Mädchen geborgen fühlt. Dass dies die erste Familie ist, die sie kennenlernt. Die Art, wie Lilly über ihre Erlebnisse dort schreibt, ist überhaupt nicht abstoßend.

Ich habe bei der Lektüre des Buches nicht einen Moment das Gefühl gehabt, dass die Autorin durch die Veröffentlichung versucht aus dem erlebten Leid Geld zu machen. Lilly Lindner hat dieses Buch geschrieben, um zu überleben. Dies war ihre einzige Möglichkeit mit dem Geschehenen annähernd umzugehen. Nackt, klar und glaubhaft bringt sie ihre Gedanken zu Papier.

Lilly Linder wurde im Laufe ihrer „Karriere“ oft gesagt, dass sie zuviel Grips für dieses Gewerbe habe, dass sie zu intelligent sei. Das ist sie. Der Leser bekommt ihre Intelligenz mit jedem Wort zu spüren, ihr sprachlicher Ausdruck ist sehr gut.

Hier möchte ich eine kleine Textstelle zitieren:

„Ich erzähle … vom Schreiben und davon, wie es sich anfühlt, umgeben von rauschenden Wörtern vor einem Laptop gefangen zu sein, und zu schreiben und zu schreiben ohne aufzublicken, ohne zu merken, wie die Zeit dahinrast, wie es dunkel wird und dunkler, und dann wieder hell. Wie es ist, wenn nichts anderes auf der Welt einem so wichtig erscheint, wie die richtigen Worte zu finden, um ein Gefühl zu malen, ein Bild zu schreiben, einen Ausdruck so laut oder leise zu formulieren, dass er genauso zwischen den Zeilen hervortritt, dass er dort gehört wird wo er bleiben möchte. Wie es ist, von Hoffnung zu erzählen, ohne dabei nach verflossenen Liebschaften zu klingen, einen Sonnenuntergang nicht mit den Worten Orange und Rot zu beschreiben, eine Träne nicht einfach nur salzig sein zu lassen und einen Augenblick, der nie wieder kommen wird, so zu umfassen, dass man ihn immer sehen kann, auch wenn er gar nicht stattgefunden hat.“

Mich hat Lillys Geschichte emotional sehr berührt und ich konnte das Buch schwer aus der Hand legen, denn ich musste unbedingt wissen, ob sie es geschafft hat, Ana und Mia loszuwerden.

Als ich das Buch beendet hatte und dann bei Facebook ihre Fanseite fand, da wusste ich, dass Lilly Lindner noch da ist. Es gibt sie noch. Und das ist immerhin ein kleiner Sieg. Ich habe mich gefreut. Ob sie es letztendlich schaffen wird, ihre Seele zu heilen bleibt fraglich. Ich wünsche es dieser starken, schwachen jungen Frau von ganzem Herzen.

Mein Fazit:

5 von 5 Sternen für eine wahre Geschichte, die eigentlich so erschütternd ist, dass man sie niemals positiv bewerten dürfte. Ich beziehe mich hier nicht auf das Erlebte der Autorin, sondern auf die erwähnte sprachliche Wucht, die absolut gegeben ist.