Rezension

Die Geschichte hat mich überfordert

Antichristie -

Antichristie
von Mithu Sanyal

Bewertet mit 3 Sternen

Durga steht mit ihrer Familie am Fluss, um die Asche ihrer Mutter Lila zu verstreuen. Ihr Vater Dinesh steht mit seiner zweiten Frau Rosa hinter ihr. Ihr Sohn Rohan und ihr Partner Jack stehen rechts und links von ihr, als der Klingelton ihres Handys sie unangenehm rausreißt. Sie wurde zu der Signalgruppe Anti-Christie hinzugefügt. Ihre neuen Arbeitskolleginnen in London spielen mit ihr die besten Tötungsdelikte in der Geschichte der Agatha-Christie-Krimis durch.

Lila geborene Duisburgerin war die originellere Inderin neben ihrem indischen Vater. Zuerst Sekretärin, dann Teilzeit-Guerilla, danach brannte sie mit Dachboden Piet als Fulltime Partisanin nach Niedeggen in eine Kommune durch, ohne Durga. 

Nach der Beisetzung fliegt Durga nach London, um ihre neue Stelle als Drehbuchautorin anzutreten. Sie fühlt sich in der multikulturellen Stadt, wo sie eine von vielen ist, deutlich wohler als zu Hause. Ihre beste Freundin Nena begleitet sie für einige Tage und im Taxi werden sie Zeuginnen der BBC Durchsage, dass Queen Elizabeth die Zweite gerade verstorben ist. Vor dem Gebäude Florin Court Films demonstrieren Menschen gegen eine Neuverfilmung Agatha Cristies. 

An einer U-Bahn Station geraten Durga und Nena in eine unangenehme Sprachlosigkeit und verlieren sich aus den Augen. Durga findet sich in einer Epoche wieder, die nichts mehr mit London 2022 zu tun hat und ist noch dazu ein junger Mann. Sie erfährt, dass sie sich im Jahr 1906 befindet und Sanjeer heißt. Jemand empfiehlt ihr „India House“, wo sie auf den charismatischen Savarkar trifft, der, wie sie weiß, zum bewaffneten Aufruhr aufrufen und ein Buch verfassen wird, weswegen die Engländer ihn einsperren werden.

Fazit: Selten habe ich mich so sehr herausgefordert, einer Autorin gerecht zu werden. Es ist einfach zu sagen: „Das war nicht meins!“ Doch dafür scheint mir das Buch zu durchdacht. Mithu Sanyal beginnt damit, dass die Protagonistin das Kind zweier unterschiedlicher Kulturen und Religionen ist, einer sogenannten „Mischehe“. Allein das Wort ist seit dem Dritten Reich besetzt und politisch unkorrekt, klärt sie auf. Die Autorin hatte den Anspruch, die Kolonialisierung nicht nur der Engländer, sondern am Rande auch die der Deutschen und der Spanier korrekt darzustellen. Die Geschichtsbücher allerdings verschweigen die Kolonialisierung Indiens, Afrikas und Marokkos in einem Maße, das man nur ignorant nennen kann. (nebenbei auch die anderer Kolonialisten wie Holländer und Franzosen) Die Autorin hat versucht darzustellen, wie die Bevölkerung Indiens (Hindu, Brahmanen, Bengalen, Sikhs Pakistani, Tamilen, Muslime und die Unberührbaren) die zu großen Teilen nach dem Varna System=Klassifizierung der Kasten leben. Sie hat dargestellt, dass Hindus Muslime nicht anerkennen. Und, was überraschend für mich war, dass Gandhi die schwarze Bevölkerung Afrikas als Kaffer bezeichnet hat, faul und träge und man ihm neben seinem friedlichen Widerstand, der etliche Inder das Leben kostete, durchaus vorwerfen kann, rassistisch motiviert gewesen zu sein. Wenn also etwas überliefert wurde, muss das nicht die Wahrheit sein. Mithu Sanyals Geschichtspamphlet lässt sich durchaus auf heutige Konflikte im Nahen Osten adaptieren. Sie hat, um ihre zahlreichen Recherchen in eine Geschichte einzuweben, die mehr Prosa als Infodump sein sollte, ein kunterbuntes Panoptikum erschaffen, wo sich allerlei bekannte Gesichter tummeln. So fordern die Suffragetten auf einer Demo zu Sanjeers Zeit das Frauenwahlrecht, Rosa Luxemburg findet kurz Erwähnung neben Karl Marx, dessen Theorien einigen revolutionären Indern  genehm sind. Hercule Poirot, die Queen, Charlotte Despard, Shakespeare werden erwähnt, Sherlock Holmes spielt ebenso wie Gandhi mit, der eine Gastrolle bekommen hat. 

Für mich war das Buch zu lang. Die Vielzahl an Namen hat mich gefordert, die sprunghaften Gedankengänge überfordert, die Zeitmaschine genervt. Was war noch mal die Message?