Rezension

Die Gräuel der Welt geballt und poetisch in Szene gesetzt. Ein grausam schönes Buch.

Die Kinder des Borgo Vecchio - Giosuè Calaciura

Die Kinder des Borgo Vecchio
von Giosuè Calaciura

Bewertet mit 4 Sternen

Ein Buch voller Metaphern und Symbole

In seinem Roman „Die Kinder des Borgo Vecchio“, der im Juli 2019 im Aufbau Verlag erschien, stellt Giosuè Calaciura auf knapp 160 Seiten die Erbarmungslosigkeit der Welt am Beispiel des alten palermischen Stadtviertels „Borgo Vecchio“ dar. Im Jahre 2017 erhielt der Autor für dieses Werk den „Premio Volponi“, einen italienischen Literaturpreis, der für besonderes bürgerliches Engagement verliehen wird.

Menschen, die im Borgo Vecchio leben, haben es schwer im Leben. So auch Mimmo, Cristofaro und Celeste, die schon in jungen Jahren vom Leben gebeutelt sind, von ihren Eltern geschlagen und vernachlässigt werden. Doch trotz allem träumen sie von einer besseren Zukunft und erhoffen sich Hilfe von Totò, dem Verbrecher und vermeintlichen Halbgott des Viertels. Doch sie ahnen nicht, dass auch er von einer besseren Welt träumt …

Das Borgo Vecchio selbst ist als Mekka des Bösen und der Grausamkeit dargestellt: Kleine, verwinkelte Gassen bieten eine Zuflucht für Kriminelle. Die Bewohner/innen verschließen ihre Augen vor der Brutalität von Cristofaros Vater und rotten sich nur zusammen, wenn die Ordnungshüter versuchen, das Chaos in den Griff zu bekommen. Behinderte werden wie Vieh gehalten, ja selbst der Geistliche des Viertels macht, gezwungen oder nicht, gemeinsame Sache mit den Ganoven. In dieser Welt aufzuwachsen, verlangt den Jugendlichen viel ab, doch nehmen sie kleine Attraktionen zum Anlass, der Welt zu entfliehen, z.B. das Auftauchen des abgehalfterten Pferdes Nanà, das als erfolgreiches Rennpferd Glanz in dieses Leben bringen soll; auch an anderen Stellen wird deutlich, dass die Kinder nicht von Grund auf schlecht sind. Leider macht das Schicksal den Einwohner/innen, teilweise selbst verschuldet (wenn Totò z.B. die Hure Carmela und ihre Tochter Celeste mittels Hochzeit aus dem Elend herausholen will, das neue Leben aber mithilfe von Diebstählen beginnen will), teilweise aber auch ohne eigenes Zutun, immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Und auch wenn das Buch selbst keine befriedigende Lösung der Torturen bietet, erscheint am Ende ein kleiner Hoffnungsfunke, wenn auf der Flucht im „Osten der (…) morgendliche Schimmer eines neuen Tages zu sehen“ ist.

Zart besaitete Leser/innen werden beim Lesen wahrscheinlich das eine oder andere Mal an ihre Grenzen stoßen, wenn z.B. Nanà die Rennen nur gewinnt, weil ihr Besitzer ihr vorher einen „rosenförmigen Dornensporen (…) in den Anus rammte“. Jedenfalls steht die bildhafte, ja poetische Sprache, der sich der Autor bedient, wenn er z.B. den Brotduft durch das Viertel ziehen lässt, in einem eklatanten Gegensatz zum Geschilderten selbst; dieses macht einen großen Teil des Reizes dieses Werkes aus und lässt die Brutalität umso abscheulicher erscheinen.

Fantasie, Traum, Realität, Rückblenden und fantastische Elemente, die als Metaphern zu verstehen sind, wechseln einander ab und fordern von Leserinnen und Lesern viel Konzentration, um dem Geschehen folgen zu können. Auffällig und ebenfalls eine Herausforderung sind die zahlreichen biblischen und christlichen Motive sowie Symbole, die den gesamten Roman durchziehen; von ihnen sollen hier nur das Judas- oder Schutzmantelmadonna-Motiv, Oster- und Weihnachtssymbolik sowie die „sprechenden“ Namen der Protagonist/innen als die Bekanntesten Erwähnung finden.

Ob die Welt wirklich so bestialisch ist oder sein muss, wie über weite Strecken dargestellt, und ob der Mensch nicht doch das Seinige dazutut, wie an manchen Stellen zu erahnen ist, ist eine Frage, die sich beim Lesen dieses Romans immer wieder stellt. Auf jedem Fall ist es dem Autor sehr eindrucksvoll gelungen, mich wieder einmal zum Nachdenken über das Böse in der Welt und die Hoffnung zu bewegen. Von mir erhält das Buch vier von fünf Lesesternen, allerdings sollte man sich beim Lesen der Schwere der Lektüre bewusst sein. Ein Buch, das einige Ansprüche stellt, jedoch auch viel zu sagen hat.