Rezension

Die junge Frau auf dem Dach

Der Sprung
von Simone Lappert

Bewertet mit 4 Sternen

Ein in mehrfacher Hinsicht besonderer und lesenswerter Roman

Ein Dienstagmorgen in der mittelgroßen Stadt Thalbach bei Freiburg: Oben auf dem Dach eines Mietshauses steht eine junge Frau. Sie tobt, reißt die Ziegel aus ihrer Verankerung und wirft Gegenstände vor die Füße der zahlreichen Schaulustigen. Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr und Presse haben sich postiert. 20 Stunden lang hält die Stadt den Atem an: Wird die junge Frau noch springen? Für Finn Holzer, einen Fahrradkurier, ist der Vorfall ein großer Schock. Erst vor Kurzem hat er sich in die junge Frau verliebt. Auch die Schicksale einiger anderer Menschen werden von diesem Vorfall beeinflusst.

„Der Sprung“ ist ein Roman von Simone Lappert.

Meine Meinung:
Der Roman ist trefflich konstruiert. Er besteht aus drei Teilen, die mit „Der Tag davor“, „Erster Tag“ und „Zweiter Tag“ bezeichnet werden. Darüber hinaus ist er in viele eher kurze Kapitel untergliedert, die jeweils mit dem Namen des Protagonisten überschrieben sind, dessen Sichtweise der Leser im Folgenden kennenlernt. Erzählt wird aus der Perspektive von insgesamt zehn Personen. Dadurch entsteht eine ungewöhnlich große Anzahl an Erzählsträngen, die jedoch miteinander verbunden sind. Der Aufbau ist sehr gut durchdacht.

Gut gefallen hat mir auch der unaufgeregte Schreibstil. Die Sprache ist poetisch und geprägt von vielen, teils ungewöhnlichen Bildern, die eine dichte Atmosphäre erzeugen. Ein aufmerksames Lesen ist gefragt, denn die Autorin versteht es, immer wieder kleine, aber wichtige Hinweise einzustreuen. Obwohl die Geschichte nur langsam an Fahrt aufnimmt, hat mich der Roman bereits nach wenigen Seiten gefesselt.

In der Geschichte taucht eine Vielzahl an Personen auf. Zunächst einmal wäre da die junge Frau auf dem Dach, die der Leser aber nur aus der Perspektive der anderen kennenlernt. Sie ist ein reizvoller Charakter, für mich allerdings weder Identifikationsfigur noch Sympathieträgerin. Auch die zehn Protagonisten, aus deren Sicht erzählt wird, sind interessante Figuren. Die meisten von ihnen sind vielschichtig angelegt und wirken authentisch. Einige wenige dagegen werden klischeehaft und überspitzt dargestellt. Die Vielfalt an Personen ermöglicht es, ein breites gesellschaftliches Spektrum abzudecken. So werden interessante Verbindungen aufgezeigt und veranschaulicht, wie die Leben ganz unterschiedlicher, zum Teil sich fremder Menschen miteinander zusammenhängen können. Insgesamt wirkt der Roman dadurch allerdings etwas zu überfrachtet, weshalb ich mir eine Fokussierung auf weniger Protagonisten gewünscht hätte.

Auch inhaltlich ist die Geschichte vielseitig gestaltet. Die junge Frau auf dem Dach bildet lediglich die Rahmenhandlung. Den meisten Raum nehmen die unterschiedlichen Schicksale und Lebensgeschichten der anderen Protagonisten sowie deren menschliche Abgründe ein. Einige konnten mich mal mehr, andere aufgrund der recht schnellen Perspektivwechsel mal weniger berühren. Mit den verschiedenen Personen geht ein Kaleidoskop an Themen einher, was die Lektüre abwechslungsreich macht. In etlichen Details wird deutlich, dass die Autorin viel Energie in die Recherche gesteckt hat.

Der Roman basiert auf einem wahren Ereignis und dessen Umständen, die Simone Lappert nachhaltig beschäftigt haben. Schonungslos zeigt sie in der Geschichte den Voyeurismus und seine Motive auf. Bei anderen Fehlentwicklungen legt sie ebenfalls den Finger in die Wunde. Aber auch über diesen Punkt hinaus schafft es der Roman immer wieder, zum Nachdenken anzuregen. Insofern steckt in ihrem Buch eine Menge Gesellschaftskritik. An einigen Stellen wirkt die Handlung jedoch etwas zu plakativ und übertrieben.

Das verlagstypische, künstlerische Cover hat wenig Aussagekraft, ist aber nicht unpassend. Der Titel, dessen Mehrdeutigkeit sich während der Lektüre offenbart, ist sehr treffend.

Mein Fazit:
Mit „Der Sprung“ ist Simone Lappert trotz kleinerer Schwächen ein in mehrfacher Hinsicht besonderer und lesenswerter Roman gelungen, der mehr als nur unterhält.