Rezension

Die Kehrseite der Lebensmedaille

Das Paradies meines Nachbarn - Nava Ebrahimi

Das Paradies meines Nachbarn
von Nava Ebrahimi

In “Das Paradies meines Nachbarn” geht es um drei Männer. Diese drei Männer verbindet eine gemeinsame Herkunftsgeschichte: der Iran.

München 2017: Sina Khoshbin ist Deutscher mit iranischen Wurzeln. Sinas iranischer Vater hat die Familie früh verlassen und lebt, erfolgreich und gut situiert, in den USA. Sina arbeitet in einer Designagentur für Küchengeräte und befindet sich in einer Sinnkrise. Dazu trägt auch sein berufliches Umfeld bei, denn es ist eines, das auf Äußerlichkeiten basiert und sich seiner Vergänglichkeit dabei nicht bewusst ist. Die Doppelmoral und das Greenwashing der Gutsituierten (“Wanderschuh, vegan, Fair trade”), der Marketing-Start-Up-Sprech der "veganes Physalis-Softeis auf dem Streetfood-Market"-Fraktion, ist Sina ein zunehmender Dorn im Auge. 

Sinas Frau Katharina, mit der er eine Tochter im Grundschulalter hat, ist ausgerechnet Resilienzforscherin und befasst sich mit der Widerstandsfähigkeit der Psyche. Als Mensch ist sie das absolute Gegenteil ihres Mannes, denn sie kommt aus einer heilen Vorzeigefamilie - ohne Migrationshintergrund. Umso mehr interessiert sie sich für dysfunktionale Familien und verkorkste Kindheiten.

Die andere Hauptfigur ist Ali Najjar, der neue Chef Sinas. Er ist heute erfolgreicher Produktdesigner. Als er ein Teeanger im Iran war, versuchte ihn das System zu einem Kindersoldaten zu machen, was erstmal gelang, denn er meldete sich für den Krieg gegen den Irak. Die Paradiesversprechen der Militär-Propaganda, vor denen ihn seine Eltern, vor allem seine Mutter Maryam vergeblich schützen wollten, verhallen zu geisterhaften Mantren in Alis Kopf. Aber Ali ist noch gerade so davongekommen, er ist als Vierzehnjähriger nach Deutschland geflohen und hat dem Krieg den Rücken gekehrt, in dem ein anderer an seiner statt kämpfen musste: Ali-Reza Bayati.

Ali-Reza ist im Iran aufgewachsen. Er hat eine traumatische Kindheit erlebt und die Traumata verfolgen ihn bis heute. Seine religiöse Mutter wird als Witwe von einem Mullah einer Gehirnwäsche unterzogen und sie will Ali-Reza zum Märtyrer machen. Er flieht vor ihr und seiner Identität, um eine andere anzunehmen.

Ali-Reza ist leidet psychisch und physisch an den Folgen der Giftgas-Anschläge und sitzt im Rollstuhl. Nun will er Ali Najjar einen Brief von dessen Mutter Maryam übergeben. Diese nahm Ali-Reza für einige Zeit als Pflegekind bei sich auf.

Sprachlich gefällt mir der Roman sehr. Ich mag es, wenn ein Buch metaphorisch sperrig ist, ungewöhnliche Bilder heraufbeschwört, mit Worten experimentiert und jongliert. Meines Erachtens tut Nava Ebrahimi das. Sie reizt die Möglichkeiten der Sprache aus und fordert den Leser mit Aha-Momenten heraus, aus seinem gemütlichen Winterschlaf in der designten Höhle der westlichen Welt hervorzukriechen und mal über den Tellerrand zu schauen in ein Land, in dem Gewalt und Leid an der Tagesordnung sind.

Die Struktur des Romans ist allerdings ein wenig kompliziert und die drei Protagonisten auseinanderzuhalten, erfordert Konzentration. Hilfreich wäre es vielleicht gewesen, den aktuell erzählenden bzw. erinnernden Fokalisator vor Beginn des Abschnitts zu benennen, also Ali Najjar, Ali-Reza oder Sina. 

Das Thema Krieg und Iranische Kindersoldaten ist natürlich keine leichte Lektüre und auch ich hätte vor manchen erinnerten Szenen am liebsten die Augen verschlossen. Also man sollte schon wissen, um was es in dem Buch geht, bevor man sich darauf einlässt. 

Das Buch ist Gesellschaftskritik pur. Es nimmt einen Zeitgeist auf die Schippe, in dem wir uns unser Leben designen und die Augen vor dem Leid verschließen, das andernorts auf der Welt existiert. Ein Fake-Leben, ein Stuhl, auf dem man nicht sitzen kann, für Likes und Social Media - Die Autorin spitzt die Schein-Existenz derjenigen, die auf der Habenseite des Lebens sitzen, wie folgt zu: "Simulierte Schönheit. Simulierte Existenz." (S. 55)