Rezension

Die Kraft der Erinnerungen

Ein Samstag in Sydney - Gail Jones

Ein Samstag in Sydney
von Gail Jones

Bewertet mit 5 Sternen

Vier Personen treffen im Hafen von Sydney ein und jeder erlebt den strahlenden Tag im australischen Sommer anders. Die Beschreibung des Lichts über dem Meeresspiegel vermittelt eine heitere, optimistische Stimmung. Den Fixpunkt Opernhaus interpretiert jeder der Ankömmlinge anders. Eine sieht in dem Gebäude einen Stapel ineinandergestellter Pozellanschälchen, eine andere ein aus Papier gefaltetes Objekt, Blütenblätter und ein geöffnetes Hai-Maul. Schon an ihrem Schritt würde man als Ohrenzeuge das unterschiedliche Temperament der Ankömmlinge erkennen. Ellie wird förmlich vom Zug ausgespuckt. Ihre kindliche Vorfreude auf das Treffen mit ihrem Jugendfreund James hat mich augenblicklich in die Geschichte hineingezogen, Ellies Lebensfreude und Lebhaftigkeit fand ich so ansteckend, dass ich alles über ihr Schicksal wissen wollte. James, den Ellie seit der Grundschule kennt und der ihr erster Liebhaber war, leidet an den Menschenmassen am Fähranleger und an seiner Vergangenheit.

Pei Xing wirkt aufgrund ihrer grauen Haare alt. Doch sie fühlt sich in der Masse wohl, kennt den Fahrkartenverkäufer und den Eismann gut, weil sie ihren Weg jeden Samstag geht. Die Einwanderin aus China nimmt die fremden Schriften an den Geschäften auf und empfindet ihre neue Heimat als asiatisch. Pei Xings Eltern kamen während der Kulturrevolution ums Leben und wurden erst Jahre später nachträglich rehabilitiert. Sie selbst wurde während ihrer Haft misshandelt. Pei Xing besucht ihre ehemalige Gefängniswärterin, die nach einem Schlaganfall hilflos im Rollstuhl sitzt, um ihr aus dem Roman Dr. Schiwago vorzulesen. Seine Kenntnisse von Fremdsprachen und ausländischen Autoren hatten zur Maozeit Pei Xings Vater das Leben gekostet. Trotz ihres schweren Lebens hat Pei Xing sich Erinnerungen an eine glückliche Kindheit bewahrt. Die vierte Person ist die irische Journalistin Catherine, die für ein Jahr einen Job in Sydney angenommen hat. Catherine, die noch immer um ihren verstorbenen Bruder trauert, wirkt abenteuerlustig. Sie genießt die fremde Stadt und ihr Leben wie einen Lottogewinn. Die Besucherin aus Irland nimmt besonders die Sprachenvielfalt der Einwanderergesellschaft wahr. Allmählich stellt sich die Frage, ob die Personen zufällig in Sydney eintreffen oder ob eine Verbindung zwischen ihnen besteht. James und Ellie verbindet ein besonderes Vertrauensverhältnis miteinander, die Erinnerungen beider münden in ihrem Treffen in Sydney. Das Leben aller kreist um die Vergangenheit. Während Ellie Kraft aus den Erinnerungen an ihre Lehrerin bezieht, obwohl sie um ihren Vater trauert, wirkt James gebeugt unter seinem Scheitern und unter Schuldgefühlen. Pei Xings Schicksal dagegen zeigt, wie subjektiv die persönliche Einschätzung sein kann, von einem schweren Schicksal getroffen zu sein, es schlechter angetroffen zu haben als andere Menschen. Die Chinesin, die von der Kulturrevolution um ihre Familie und ihre Jugend gebracht wurde, scheint zu den Menschen zu gehören, die die Vergangenheit bewahren und sich trotzdem nicht von ihr zu Boden drücken lassen.

Gail Jones hebt vier durchschnittliche Menschen aus der Masse einer Großstadt hervor und entfaltet aus den Ereignissen eines gewöhnlichen arbeitsfreien Tages die Sicht in die Innenwelt ihrer Figuren, die stellvertretend für die australische Gesellschaft stehen könnten. Jones feine Wahrnehmung von Außen- und Innenwelt hat alltägliche Ereignisse zu einem Roman der leisen Töne gefügt.

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"Und als endlich der Schnee kam, zunächst unbeständig, versprengt und enttäuschend, aber dann - oh ja - über Nacht dicht, hielt sie [Pei Xing] sich irgendwie persönlich dafür verantwortlich. Sie war aufgewacht, und da war er, bedeckte Dächer und Bäume, die Griffe der Fahrräder und türmte sich an den Wegrändern, sammelte sich auf den Abdeckungen der Marktstände und im Hof der Grundschule. Weißer als Reismehl, mit einem bläulich-malvenfarbenen Schimmer. Weicher als fallendes Laub und windgetriebener. Man konnte ihn schmecken. Man konnte ihn trinken. Man konnte den Himmel schlucken. Flocken setzten sich in ihren Mund und auf ihre geblendeten Augen." (S. 98)