Rezension

Die meistdiskutierte Neuerscheinung des Bücherherbstes

Meine geniale Freundin - Elena Ferrante

Meine geniale Freundin
von Elena Ferrante

„Meine geniale Freundin“ ist mit Sicherheit die meistdiskutierte Neuerscheinung des Bücherherbstes. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: zum einen verkauft sich dieser erste Roman der vierbändigen Reihe in sämtlichen Ländern, in denen er bisher veröffentlicht wurde, wie geschnitten Brot. Zum anderen trägt natürlich auch das Geheimnis um die Autorin Elena Ferrante sein Scherflein dazu bei, denn noch immer ist nicht geklärt, wer sich nun definitiv hinter diesem Pseudonym verbirgt. Es gibt zwar zahlreiche Spekulationen hinsichtlich deren Identität, aber dabei ist es auch geblieben. Elena Ferrante war und ist bis zum heutigen Tage ein Phantom. Fest steht allerdins, dass sich hinter Ferrante jemand verbergen muss, der Neapel und die Historie der Stadt wie ihre/seine Westentasche kennt.

Womit wir schon beim Handlungsort wären – Neapel. Der Roman erzählt nämlich nicht nur die Geschichte einer Freundschaft sondern auch lässt uns auch am Leben der kleinen Leute in der süditalienischen Metropole teilhaben. Es sind die fünfziger Jahre, und die Autorin liefert eine Beschreibung dieser Gesellschaft nach dem Krieg, die geprägt ist von starren Klassenschranken, männlichem Autoritätsgehabe, mafiösen Strukturen und roher Gewalt. Und über allem steht immer die Familie. In dieses Leben werden zwei Mädchen hineingeboren, Raffaela Cerullo (genannt Lila) und Elena Greco (genannt Lenù), erste als Tochter eines Schusters, zweite als Tochter eines Pförtners. Sie freunden sich in der Grundschule an. Elena brav und zurückhaltend und fleißig, Lila hingegen lebhaft und vorlaut und intelligent. Mit untrüglichem Gespür wird ihnen im Laufe der Zeit bewusst, dass Bildung der Schlüssel zu einem anderen, besseren Leben ist. Doch wie so oft kommt es anders, denn Lila muss die Schule verlassen und ihren Vater im Familienbetrieb unterstützen, während Elena die notwendige Unterstützung durch Lehrer und Familie erhält und so die gemeinsamen Träume vielleicht doch noch verwirklichen kann. Lila bleibt scheinbar nur noch eine Möglichkeit, um dem Einfluss ihres Vaters zu entkommen, damit sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen kann. Aber ob eine Heirat, und somit eine erneute Abhängigkeit, ihr wirklich den erhofften Freiraum bringt?

Freundschaft und Konkurrenz, unterschiedliche Lebensentwürfe und der Aufbruch ins Ungewisse, Ferrante erzählt die Geschichte einer Selbstfindung, und interessanterweise ist die jeweils andere für die beiden im Zentrum des Romans stehenden Frauen die „geniale Freundin“. Wenn man sich die Ausgangssituation der beiden Mädchen anschaut, besteht kein Zweifel, dass Lila eindeutig die Intelligentere mit den besseren Voraussetzungen ist. Aber sie muss bald erkennen, dass es Zwänge gibt, in diesem Fall die Familie, die ihr die Chance verwehrt, die vorgezeichneten Bahnen zu verlassen. Und so arrangiert sie sich mit den Verhältnissen und versucht im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Beste aus ihrer Situation zu machen. Elena hingegen hat den Ehrgeiz und den „Auftrag“ ihrer Freundin, Grenzen zu sprengen und das scheinbar Unmögliche zu versuchen. Für sie ist Bildung der Schlüssel, der ihr die Türen in ein anderes Leben öffnet, und zwar außerhalb Süditaliens.

„Meine geniale Freundin“ erzählt eine eher schlichte Emanzipationsgeschichte in einfacher Sprache. Aber die Autorin ist zum einen immer nah an ihren Personen, zum anderen tragen die realitätsnahen Beschreibungen des neapolitanischen Lebens stark dazu bei, dieser einfachen Geschichte eine enorme Dichte und Intensität zu verleihen. Auch wenn sich mittlerweile die Zugangsmöglichkeiten vereinfacht haben ist Bildung als Schlüssel zur Emanzipation noch immer ein Thema, das nicht nur für Frauen relevant ist – heute mehr denn je.