Rezension

"Die Mutter war eine Königin, nach deren Gunst Ella hungerte."

Wahr - Riikka Pulkkinen

Wahr
von Riikka Pulkkinen

Bewertet mit 5 Sternen

Es ging alles sehr schnell. Bei der pensionierten, früher beruflich erfolgreichen Psychologin Elsa wird Krebs diagnostiziert. Hoffnung auf Heilung gibt es nicht und Elsa wird zum Sterben nach Hause entlassen. Dass Elsa nun auf die Hilfe anderer angewiesen ist, ist ungewohnt für sie. Bei der Pflege werden ihr Ehemann Martti, Elsas Tochter Eleonoora und die Enkelinnen helfen. Durch die schwere Krankheit rückt die Familie der Patientin gezwungermaßen näher zusammen. Martti bereitet das Sterben seiner Frau große Angst.

"Doch dann fand er endlich eine Methode, sich selbst zu beruhigen. Er trat ans Fenster, öffnete es weit, schaute in den Himmel und lauschte der Amsel. Die Trauer gesellte sich leise zu ihm, und er ließ sie kommen, schloss Bekanntschaft, wie um sich vorsorglich an sie zu gewöhnen. Er entdeckte sie in der Haltung seiner Hände, in den halb ausgestreckten Armen. Der Trauer musste man Raum geben, man musste sie umarmen. Andernfalls überfiel sie einen als Entsetzen, plötzlich und ohne Vorwarnung, beim Überqueren einer Kreuzung oder im Geschäft vor den Mandarinen und Kartoffeln." (S. 12)

Enkelin Anna hat offenbar ernste Probleme, die nicht mit dem Sterben ihrer Großmutter zusammenhängen. "In ihrem Leben breitet sich der Kummer wie ein Tintenfleck aus." (S. 32) Anna empfindet eine deutliche Entfremdung zum Großvater, dem sie als Kind sehr nahestand. Anna liebt einen Mann, der Vater eines Kindes ist, und müsste sich im Fall einer Trennung auch von dem Kind trennen. Eleonoora ist Chirurgin, ihre Tochter Maria studiert Medizin. Auf den bevorstehenden Tod ihrer Mutter reagiert Eleonoora extrem, als trauere sie bereits jetzt, bevor Elsa überhaupt gestorben ist. Die Familie Ahlqist verbirgt ein Geheimnis, das sie fest verschnürt hütet. Die Familienkonstellation wirft einige Fragen auf, wie die Medizinerin Eleonoora als betroffene Angehörige mit dem Sterben ihrer Mutter umgehen wird und auch was Elsa ihrer Tochter in der Kindheit für eine Mutter war. Als international hoch geachtete Psychologieprofessorin reiste Elsa oft zu Kongressen und ließ ihre kleine Tochter dann einige Wochen lang mit Martti und einem Kindermädchen zurück. Hat die Wissenschaftlerin, die theoretisch so viel über Beziehungen weiß, ihr Wissen in der Erziehung ihrer Tochter genutzt? In der Geschichte der vier Frauen aus drei Generationen breitet sich zunehmend die Geschichte einer fünften, abwesenden Frau aus, die in der Ich-Form erzählten Erinnerungen des Kindermädchens Eeva. Die bisher verschwiegene Eeva nimmt in der Handlung wachsenden Raum ein, während die Leser noch immer rätseln, was aus Eeva geworden ist. In den 60er Jahren betreute Eeva die kleine Eleonoora als Kindermädchen während Elsa beruflich unterwegs war. Martti zog sich dann jedesmal in sein Atelier zurück und überließ Eeva allein Haushalt und Erziehung. Ella liebt ihre Betreuerin innig und reagiert auf die Liebesbeziehung ihres Vaters zu "ihrer" Eeva mit extremen Gefühlen und Ängsten. Erst nachdem das vierzig Jahre zurückliegende Familiengeheimnis um Eeva gelüftet ist, können Elsa und ihre Familie voneinander Abschied nehmen.

Rikka Pulkkinen hat mich mit ihrem feinfühlig erzählten Familienroman von der ersten Seite an so gefesselt, dass ich das Buch nicht wieder aus der Hand legen konnte. Die finnische Autorin zeichnet wunderbare Bilder von Kindheitserinnnerungen, idyllischen Sommern an einem finnischen See und von großen Gefühlen. Die Veränderungen, wenn Alte oder Kranke in den Augen ihrer Kinder wieder zu Kindern werden, das Abschiednehmen von der Mutter und speziell Eleonooras Umgang mit dem Tod in ihrem Privatleben beobachtet die Autorin mit großer Sensibilität. Die Charakterisierung der professionellen Helferin Eleonoora von ihrer privaten Seite, ihr Pendeln zwischen dem Wunsch nach Nähe, Rückzug und Kontrolle, zwischen Verletzungen in der Kindheit und dem Verbergen ihrer Gefühle vor der sterbenden Mutter hat mich sehr bewegt.