Rezension

Die Poesie des Melodramas

Der Schatten des Windes - Carlos Ruiz Zafón

Der Schatten des Windes
von Carlos Ruiz Zafón

Bewertet mit 4 Sternen

Fast heimtückisch brach der Nachmittag in sich zusammen, mit einem kalten Wind und einem Purpurschleier, der in sämtliche Winkel der Straßen glitt. Ich beschleunigte meine Schritte, und nach knapp zehn Minuten tauchte die Fassade der Universität wie ein in der Nacht gestrandetes ockerfarbenes Schiff auf. [...]

Die Geschichte beginnt 1945, mitten in der schlimmsten Phase des diktatorischen Franco-Regimes. Eines Tages nimmt der Vater den zehnjährigen Daniel mit zu einer geheimen Bibliothek, dem “Friedhof der vergessenen Bücher“, wo der Junge einen Roman des völlig unbekannten Schriftstellers Julián Carax findet, der ihn fortan in seinen Bann zieht. Während der folgenden Jahre versucht Daniel, die verschüttete Spur des Autors aufzunehmen. Hilfe erhält er durch die blinde Clara, die schnell zu einem Anziehungspunkt für den Jungen wird, später durch den von der Polizei gejagten Obdachlosen Fermín de Torres. Aber nicht jedem gefällt die Recherchearbeit des jungen Mannes, denn die Geschichte um Julián Carax und um seine unglückliche Liebe zu einer Frau namens Penélope birgt ein düsteres Geheimnis. Und dann bekommt Daniel es auch noch mit dem berüchtigten Polizeichef von Barcelona zu tun ...

Carlos Ruiz Zafón komponiert diesen düsteren Literatur-Krimi meisterhaft. Zafóns Text versprüht Poesie und Wortwitz, was auch in der Übersetzung von Peter Schwaar wunderbar herauskommt. Wobei ich etwas mehr als die Hälfte des Buches brauchte, um mich wirklich von der Geschichte mitreißen zu lassen. Die Verästelung und Ausführlichkeit der Geschichten in der Geschichte ermüdeten mich zunächst ein wenig. Manchmal fand ich es schwierig, dabei den roten Faden und alle Zusammenhänge im Auge zu behalten. Auch über die Vielzahl der beteiligten Personen verlor ich hin und wieder den Überblick. Erst im hinteren Teil des Buches verdichtet sich alles zu einem logischen Ganzen, werden Namen zu Charakteren. Dann aber wird es auch extrem spannend, und man kann sich dem Sog der Lektüre nur noch schwer entziehen.

Ein gewichtiger Kritikpunkt allerdings ist der geradezu unschuldig daherkommende grobe Sexismus, der sich hin und wieder breit macht. Dieser Fermín ist ein ganz formidabler Kerl, bis zu dem Augenblick, wo er - schwerverletzt, versteht sich - nicht aufhört, der Krankenschwester in den Hintern zu kneifen. Was mich aber noch wütender macht, sind Sätze wie „… hatte ein beschränktes Mannweib mit Prinzessinnenfantasien und dem Aussehen einer Putze geheiratet …“. Klar, das Buch ist ein Männerroman, da muss man als Frau schon mal ein Auge zudrücken. Aber man kann sich auch nicht immer wie selbstverständlich damit herausreden, mit bestimmten sexistischen Stereotypen nur den Horizont der Protagonisten oder den historischen Zeitgeist dargestellt zu haben.

Solche Mängel, sowie auch der dem Werk innewohnende Hang zur Melodramatik, führten bei meiner Bewertung zu einem Punktabzug, konnten aber nicht verhindern, dass ich am Ende begeistert den Buchdeckel zugeklappt habe und das Werk nun als insgesamt lesenswert weiterempfehle. Wenn man das Märchenhafte der Geschichte akzeptiert (märchenhaft nicht im Sinne von magischem Schnickschnack, sondern im Sinne einer gewissen Idealisierung der Handlungsverläufe - im Positiven wie im Negativen), dann hat man beim Lesen Freude. Es hat sich gelohnt, Carlos Ruiz Zafón, der leider in diesem Jahr verstarb, anhand dieses spannenden Stücks Literatur kennenzulernen.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 14. Oktober 2020 um 14:10

Deine Rezension ist spannend und überzeugend, ich habe nun endl verstanden, worum es in diesen Romanen geht. Danke dafür. Aber das Thema scheint mir unendlich langweilig zu sein. Ich werde also Carlos niemals richtig kennenlernen. RIP.