Rezension

„Die Rückschau müsste unser Leben aus den Fugen geraten lassen“

Kaltenburg - Marcel Beyer

Kaltenburg
von Marcel Beyer

Marcel Beyer versucht sich in "Kaltenburg" an einem Roman wider das Vergessen. Und scheitert.

„Leichte Erschütterungen. Die ersten Missverständnisse. Alles will erklärt sein. Irgendwann beginnen die rätselhaften Dinge, sich Schritt für Schritt aus der inneren Welt zurückzuziehen“.

Hermann Funk, Ich-Erzähler des Romans, trifft sich mit einer Dolmetscherin, die sich in Vorbereitung auf einen Staatsbesuch mit den lateinischen und englischen Namen der hiesigen Vögel vertraut machen möchte. Aus der geplanten einmaligen Begegnung ergeben sich Treffen im Zeitraum von einem halben Jahr, in dem die Dolmetscherin durch Fragen – und vor allen Dingen Zuhören – den pensionierten Ornithologen Funk ermuntert, von seinem Leben und insbesondere seiner Verbindung zum berühmten Vogelkundler Kaltenburg zu erzählen. Erst ausgelöst durch diese Fragen beginnt sich Funk zu erinnern, Bilder heraufzubeschwören, die längst vergessen waren. Der Erzähler weist eine merkwürdige Distanz zum eigenen Leben auf, die er sich erst jetzt, in den Gesprächen mit der Dolmetscherin als eine Art Trauma-Reaktion erklärt: „Als habe jene erste Nacht in Dresden eine ganze Reihe älterer Bilder gelöscht, als habe mir der Ansturm jener hart zwischen Hell und Dunkel wechselnden Eindrücke frühere, in der Beleuchtung feiner abgestimmte Erinnerungen einfach aus dem Kopf getrieben“.

Funk ist in Posen aufgewachsen, ein Einzelkind. Ein einsames Kind, das sich meist in seinem Zimmer selbst beschäftigt und kaum Spielkameraden hat. 1945 flieht die Familie nach Dresden, doch in der Dresdner Bombennacht kommen die Eltern um, ihre Leichen werden nie gefunden. So bleibt in Funk stets die Ungewissheit und Unsicherheit, was das eigene Schicksal angeht. Nirgendwo mehr wird er sich richtig zuhause fühlen. In Dresden begegnet er Ludwig Kaltenburg wieder, den er noch aus der Posener Zeit kennt. Kaltenburg übernimmt die Rolle des Ziehvaters; Funk glaubt ihm so vertraut zu sein wie sonst niemand, doch stets bleibt da eine gewisse Kluft in der Beziehung der beiden. So etwa duzt Kaltenburg Hermann Funk, der sein Schüler wird, doch dieser bleibt zeitlebens beim förmlichen „Sie“. So wie des heimatlosen Erzählers Erinnerungen im Schatten liegen, so lebt er auch: zeitlebens im Schatten von Kaltenburg, zwar stets an seiner Seite, aber gleichzeitig hat man das Gefühl, dass er immer etwas außen vor ist. Die Außenseiter-Rolle aus seiner Kindheit setzt sich Zeit seines Lebens fort. Auch in seiner Ehe mit Klara wird es immer Dinge geben, zu denen er keinen Zugang hat. Klaras Faszination an den Werken von Proust erschließt sich ihm nicht, und er versucht auch gar nicht, sie zu verstehen. Jetzt sagt er: „vielleicht war das ein Fehler“.

Doch eigentlich geht es in diesem Roman gar nicht so sehr um den Erzähler, diese merkwürdig blasse, stets vereinsamte Figur. Eigentlich steht Kaltenburg im Mittelpunkt, der aus Wien kommende Ornithologe, der später in Dresden Karriere macht, dort ein ornithologisches Institut aufbaut, in Leipzig lehrt, sich umgibt mit Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern, der stets exzentrisch ist, mit Sonnenbrille und Motorrad auftaucht und auf die Limousine inklusive Stasi-Chauffeur verzichtet. Kaltenburg, der dem Roman seinen Namen gibt, Kaltenburg, der immer ein Rätsel bleiben wird. Nur Andeutungen gibt es, was er wohl so gemacht haben mag, als er während des Nationalsozialismus als Lazarettpsychiater arbeitete, ob er nicht vielleicht auch in medizinische Versuche an Menschen verwickelt war. Kaltenburg, der sich durch seine Beschäftigung mit Dohlen einen Namen gemacht hat und mit seiner Publikation „Urformen der Angst“ für großes Aufsehen sorgte. Ein Werk, das nicht nur positiv aufgenommen wurde, das für Verstörung sorgte ob seiner Beobachtungen, die „sich dem Verhältnis zwischen Tier und Mensch unter Extremsituationen widmen. Ein früherer Mitarbeiter empört sich, anscheinend habe Ludwig Kaltenburg vergessen, wo er hingehöre“, lässt uns der Erzähler wissen. Kaltenburg dominiert alles. Er ist charismatisch, doch zugleich unzugänglich. Das kommt auch daher, dass der Leser ihn nur durch die sehr subjektiven Erinnerungen von Hermann Funk kennt. Dieser Erzähler, der sich erst nach und nach an Ereignisse erinnert, der nie hinterfragte, nie Dinge klärte. Der zwar jetzt, im Alter, endlich beginnt, so manche Schlüsse zu ziehen und sich von Kaltenburg zu lösen, von einer Gestalt, die ihn in gewisser Form noch unbewusst beherrschte, obwohl sie zuerst nach Wien zog und nun schon lange tot ist. Als Leser traut man dem Erzähler nicht so recht, und dadurch dem undurchsichtigen Kaltenburg noch viel weniger. Ein Sympahtieträger ist dieser Ausnahme-Vogelkundler ganz sicher nicht.

Unmittelbar verknüpft mit den Biografien Kaltenburgs und Funks sind gut 60 Jahre deutsche Geschichte, vom zweiten Weltkrieg, der Zerstörung Dresdens und dem Aufbau der DDR bis hin zum Mauerfall und darüber hinaus. Doch ein Geschichtsbuch kann man diesen Roman trotz seiner ganzen historischen Bezüge nun wirklich nicht nennen. Vor allem junge Leser werden sich schwer tun mit Kaltenburg. So viele Andeutungen gibt es, die aber (von der jüngeren Generation) nur selten völlig entschlüsselt werden können, setzen sie doch ein Wissen voraus und eine Erfahrung, die man bei diesen Lesern nicht voraussetzen kann. Dass der fiktive Kaltenburg trotz einiger biografischer Unterschiede  für den realen Konrad Lorenz steht, der im Nationalsozialismus vermutlich an Rassen-Untersuchungen teilgenommen hat, wird schnell klar, zumal der Erzähler einmal an der ehemaligen Kaltenburg-Villa vorbeigeht und am Eingang der Name „Lorenz“ an der Klingel steht. Die Verbindung eines Martin Spengler zum großen Künstler Joseph Boys herzustellen oder die von Knut Sieverding zum Tierfilmer Heinz Sielmann wird da schon schwieriger. Und so geht es mit vielen Hinweisen. Da werden beiläufig Namen fallen gelassen: Paul Merker, Slanski-Prozess, Philipp Auerbach. Vertiefende Kommentare jedoch fehlen. Möchte man die Verbindungen entschlüsseln, die Hintergründe erfahren, bleibt nur die eigene Recherche. Dazu braucht es Zeit und Muße. Verfügt man aber nicht über ein großes Hintergrundswissen bezüglich des zweiten Weltkriegs und des Lebens in der DDR (oder eignet sich dieses Wissen eben im Laufe der Lektüre durch beständiges Nachschlagen an), so bleibt man bei diesem Roman auf der Strecke. Zwar kann man dem Lauf der Geschichte auch so folgen, doch die großen Bögen und Zusammenhänge bleiben so unentdeckt. Und das macht Kaltenburg dann vor allem zu einem: einer langatmigen, teils unverständlichen Lektüre. Beyers Strategie der bloßen Andeutungen, verbunden mit einer unglaublichen Komplexität, geht hier nicht auf. Idealerweise müsste man sich nach dem ersten Lesen über die Hintergründe informieren und dann den Roman noch einmal zur Hand nehmen. Doch der erste Durchgang ist in seiner Sperrigkeit so abschreckend, dass man sich scheut, das Buch erneut aufzuschlagen, ist man doch froh gewesen, als dieses „Wortungetüm“ endlich zu Ende war. Eigentlich ist das schade, denn Beyers Ansatz hat durchaus Potential. Hier jedoch scheitert der Autor am eigenen Anspruch, etwas Neues zu schaffen.

Was Beyer versucht, ist nicht weniger als die Verknüpfung von (Zeit-)Geschichte, Vogelkunde, Biologie, Psychologie und Biografien, um einen Roman wider das Vergessen zu schreiben. Die gewählte Struktur ist dabei aber das größte Hindernis. Denn der Erzähler springt von Ereignissen zu Ereignissen, unzumutbar ist das für den Leser und unglaublich schwer zu folgen. Da ist man im einen Moment in Posen, im nächsten im Nachkriegsdresden, plötzlich aber spaziert man wieder mit der Dolmetscherin durch die Stadt. Das verwirrt. Und wird nicht dadurch besser, dass immer wieder Andeutungen gemacht werden. Im Gegenteil. Der Erzähler lässt vieles ungesagt, ungeklärt. Was zunächst zum Weiterlesen verlocken mag, weil man auf eine Auflösung wartet, kehrt sich schnell ins Gegenteil: Langeweile, ja, schlimmer noch, Gleichgültigkeit der Geschichte gegenüber, weil man schon damit rechnet, dass es eine Auflösung nicht geben wird, dass alles in der Schwebe bleibt. Auf konkrete Aussagen wartet man vergeblich. Natürlich darf es offene Enden geben, aber in Kaltenburg wird so offensichtlich damit gespielt, dass der Leser ein ums andere Mal enttäuscht wird und sich nicht ernst genommen fühlt – und im Umkehrschluss auch das Buch nicht mehr interessant findet.

Zum hochkomplizierten und unglaublich komplexen – zu komplexen – Aufbau kommt eine Satzstruktur, die ihresgleichen sucht. Und das ist nicht nur positiv gemeint. Die Satzstruktur ist oft ähnlich. Das ist zunächst interessant und spannend, es wird dann aber doch schnell ermüdend. Was man hier Beyer ironischerweise allein zu Gute halten kann: diese Verschachtelung, die es im äußeren Aufbau der Geschichte gibt, diese Gedanken, die völlig durcheinander gehen, führt er zumindest in der Sprache konsequent weiter, auch hier bleibt alles fragmentartig. Auch scheut er sich nicht von Bandwurm-Sätzen, denen eines Thomas Mann nicht unähnlich: „Ich klammere mich an die Handgelenke, die Unterarme meines Kindermädchens, wenn auch nur mit den Augen, weil ich sie jetzt nicht anfassen darf, weil sie mit einer Hand die Fleischplatte balanciert, während sie in der anderen Gabel und Löffel hält, um nacheinander je zwei Scheiben Braten auf die fünf großen, elfenbeinfarbenen Teller aus dem Sonntagsservice zu verteilen, die Teller mit dem umlaufenden lindgrünen Band, ein Halm, der nirgendwo beginnt, nirgendwo endet, und trotzdem suche ich den Anfang jedes Mal.“  Das sind Sätze zum Abgewöhnen. Gerade hier entsteht aber eine ungewollte Komik: wie der Erzähler, so sucht auch der Leser stetig nach einem Anfang, doch die Geschichte läuft und läuft und läuft, es gibt keinen Beginn, kein Ende. So war das mit der Identifikation des Lesers mit dem Roman sicher nicht gemeint.

Einige starke Bilder bleiben dennoch im Kopf. Die Eröffnung etwa, die beschreibt, wie Affen während der Dresdner Bombennacht mithalfen, die Leichen wegzuräumen. Oder die Vögel, die währenddessen tot, brennend, vom Himmel fallen. „Ein Waldkauz, der auf dem Ansitz vom hereinbrechenden Feuer, vom Flugzeuglärm aus seiner sonst so stoischen, an Totenstarre gemahnenden Ruhe gerissen war (…)Ringeltauben, die in die Luft aufstiegen (…) um Richtung Elbe oder sonstwohin zu fliehen, worauf sie sich bei den ungeheuren Temperaturen auch in höheren Luftschichten mitten im Flug entzündeten“. Die Schilderung der Bombennacht in Dresden gehört zweifelsfrei zum Eindrücklichsten, was der Roman zu bieten hat. Hier trumpft Beyer in aller Bescheidenheit auf mit einer Wortgewalt und Vorstellungskraft, die einem den Atem nimmt. Trotzdem kann dieser vom führenden Feuilleton so hoch gelobte Roman nicht mithalten mit den Erwartungen, die man nach dieser Szene an ihn stellt. Er entwickelt sich: zu einer unbefriedigenden Enttäuschung.