Rezension

Die schöne Freyja kehrt nach Island zurück - und hat Unheil im Gepäck...

Möwengelächter - Kristín Marja Baldursdóttir

Möwengelächter
von Kristín Marja Baldursdóttir

Bewertet mit 4 Sternen

Das Buch: Die zwölfjährige Agga wächst in den 50er Jahren in einem beschaulichen isländischen Fischerdörfchen auf. Der Großvater ist als Seefahrer oft unterwegs und so ist die heranwachsende Agga von vier sehr gegensätzlichen Frauen unterschiedlicher Generationen umgeben. Eine sprengt jedoch bald den Rahmen: Freyja, schön, reich und als Witwe aus Amerika zurückgekehrt. Agga begegnet der neuen Mitbewohnerin mit Skepsis, was nicht nur daran liegt, dass sie ihr Zimmer für sie räumen muss. Argwöhnisch verfolgt Agga, wie sich in Freyjas Kielwasser unruhige Zeiten, Streit und sogar Leichen anhäufen....

Ich habe "Möwengelächter" von einer Kollegin in die Hand gedrückt bekommen und bin sehr froh darüber, denn sonst wäre mir ein ganz besonderes Buch entgangen.
Aggas Welt im isländischen Dorf der 50er Jahre hat mich sofort gefesselt und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, obwohl die Spannung eher unterschwellig vorhanden ist. Der Fortgang der Handlung war für mich bis zum Schluss nicht vorauszusehen. Im Verlauf des Buches musste ich außerdem immer wieder meine vorgefassten Meinungen über die Protagonistinnen ändern. Es gibt hier keine typischen Sympathieträger; gnadenlos zeigt die Autorin auch die Schwächen der einzelnen Personen auf.
Trotzdem ist mir vor allem Agga ans Herz gewachsen, deren aufmüpfiges Auftreten in großem Kontrast steht zu den ganz altersgemäßen Ängsten und Gedanken, die sie plagen. Das ist keins dieser ermüdenden superklugen Kinder, die denken und handeln wie kleine Erwachsene, sondern eine aufgeweckte Zwölfjährige, die das, was die Erwachsenen um sie herum veranstalten, oft sehr fragwürdig findet und sich nicht vorstellen kann, selbst mal so zu werden.

Spannend fand ich auch das soziale Gefüge im Dorf dargestellt und die tiefen Gräben zwischen den wenigen wohlhabenden "Konservativen", mit denen sich Aggas Großvater als glühender Sozialist im ewigen Zwist befindet sowie dem Großteil der Bevölkerung, der gerade so über die Runden kommt und unter den ständigen Erhöhungen der Lebensmittelpreise schwer zu leiden hat.
Und dann gibt es auch noch die Menschen am Rand der Gesellschaft, Säufer mit scheinbar lustigen Namen wie Jonni Heulboje und Tobbi Sprit - sie gehören für die meisten einfach zum Dorfbild dazu, ohne dass sich jemand große Gedanken um ihre Lage machen würde. Freyja ist die Erste, die wirklich in Begegnung mit ihnen geht (womit sie allerdings ihre eigenen Ziele verfolgt, z.B. die ihr verhasste, versnobte Schwiegermutter in den Wahnsinn zu treiben).

In dieser Gesellschaft, in der bisher jeder seinen festen Platz hatte, schafft Freyja es Schritt für Schritt, was Sozialisten und Kommunisten schon seit Jahren vergeblich versuchen: Die Klassenschranken zwischen den Menschen im Dorf zu durchbrechen.
So kurios ich die Wahl ihrer Mittel und ihr Vorgehen finde - was Freyja durch ihr Handeln oder auch nur durch ihr Vorbild an Freiheiten für die Frauen in ihrer Umgebung erkämpft, ist bewundernswert. Am Ende erkennt selbst Aggas Großvater, dass in seinem Haus und bald auch im ganzen Dorf längst andere das Sagen haben, und packt frustriert seinen Seesack, um dem unberechenbaren "Weiberhaushalt" möglichst schnell wieder den Rücken zu kehren.
Mitunter fühlte ich mich beim Lesen an Ingrid Noll erinnert; Kristín Marja Baldursdóttir hat ein ähnliches Talent dafür, einen Mord aus dem "sex & crime"- Szenario der herkömmlichen Kriminalromane zu lösen und mitten in eine scheinbar heile Welt zu verpflanzen, Augenzwinkern inklusive.
Ich kann "Möwengelächter" allen Leserinnen und Lesern empfehlen, die unbequemen, aber authentische Protagonisten Interesse entgegenbringen können und ausreichend Geduld haben, um deren Entwicklung mitzuverfolgen, ohne dass sofort klar ist, wo der rote Faden der Geschichte ist oder worauf alles hinauslaufen wird.
Wer wie Agga einfach nur neugierig ist und wissen will, wie es weitergeht, der wird mit einem ungewöhnlichen Buch belohnt, das einen selbst im Hochsommer geistig in gegenden versetzen kann, wo es zugefrorene Seen, eingeschneite Häuser und todbringende Stürme auf dem Meer gibt.