Rezension

Die See, die See

Manhattan Beach - Jennifer Egan

Manhattan Beach
von Jennifer Egan

Bewertet mit 4 Sternen

Jennifer Egans neuer Roman  “Manhattan Beach“  ist zugleich historischer Roman und Krimi. Die Autorin zeichnet ein gut recherchiertes Porträt von New York zur Zeit der Wirtschaftskrise und während des Zweiten Weltkriegs. Eddie Kerrigan, der Vater der Protagonistin Anna, arbeitet zunächst als Laufbursche für einen Gewerkschaftsboss, später für Dexter Styles, einen reichen und mächtigen Gangster, der verschiedene Nachtclubs besitzt. Eines Tages begleitet die 11jährige Anna ihren Vater zum Anwesen der Styles und lernt dessen Familie kennen. 8 Jahre später ist der Vater seit 5 Jahren spurlos verschwunden. Anna kümmert sich mit Mutter Agnes um die schwerstbehinderte jüngere Schwester Lydia. Zunächst führt sie in der Werft Messungen durch, dann bewirbt sie sich als erste Frau um eine Ausbildung als Taucherin – anfangs vergeblich. In dieser reinen Männerdomäne will man keine Frauen. Doch eines Tages überwindet sie alle Widerstände und repariert  von da an mit ihren Kollegen Kriegsschiffe in der Werft. Als sie eines Tages einen Nachtclub besucht, sieht sie Dexter wieder, der sie aber nicht erkennt. Sie bemüht sich um Kontakt zu ihm, weil sie glaubt, dass er etwas  über den Verbleib ihres Vaters  weiß. Anna hat nie aufgehört, nach ihm zu suchen, ihn zu vermissen. Sie ist überzeugt, dass er wegen seiner Tätigkeit für das Syndikat sterben musste. Dexter Styles hat tatsächlich Informationen für sie. Dexter und Anna fühlen sich zueinander hingezogen und bringen sich damit in Lebensgefahr.
Der vielschichtige Roman wird aus drei verschiedenen Erzählperspektiven mit mehreren Wechseln der Zeitebene erzählt. Der Leser blickt aus Annas, Eddies und Dexters Sicht auf die Ereignisse. Jeder der drei  hat ein Geheimnis. Ihre Schicksale sind unauflöslich miteinander verknüpft, wie erst allmählich deutlich wird. Neben der Krimihandlung gewährt die Autorin  Einblick in den zeitgenössischen Kontext: die Kriegsereignisse ebenso wie die Stellung der Frau in der damaligen Gesellschaft, die Rolle der Gewerkschaften und des organisierten Verbrechens.  Sehr detaillierte Beschreibungen von Tauchgängen samt Ausrüstung und den mit der Arbeit in der Tiefe verbundenen Gefahren zeigen, dass Egan auch hier sehr gründlich recherchiert hat. Neben den genannten Figuren ist jedoch das Meer der heimliche Protagonist dieses Romans, denn nicht das städtische New York steht im Mittelpunkt, sondern Brooklyn und Manhattan Beach. Die Autorin teilt die Faszination ihrer Protagonisten für den Sehnsuchtsort Meer und seine symbolische Bedeutung, seine reinigende und erneuernde Kraft, aber auch seine sichtbare Oberfläche mit einem verborgenen  Untergrund, die die Ereignisse auf der Handlungsebene spiegelt. 
Mir hat der auch sprachlich anspruchsvolle Roman gut gefallen. Spannung bezieht  er vor allem aus der Tatsache, dass die verschiedenen Erzählstränge erst gegen Ende zusammengeführt und erst dann alle zurückgehaltenen Antworten gegeben werden. Der Leser braucht etwas Geduld, aber es lohnt sich.