Rezension

"Die Summe unseres Lebens sind die Stunden, in denen wir liebten." (Wilhelm Busch)

Mehr als tausend Worte - Lilli Beck

Mehr als tausend Worte
von Lilli Beck

Bewertet mit 5 Sternen

9. November 1938. In der Reichspogromnacht, als in Berlin sämtliche Synagogen in Brand gesteckt werden, erwacht die 16-jährige Aliza, Tochter des jüdischen Arztes Samuel Landau, durch den Schrei ihres Großvaters, als dieser von der Gestapo verhaftet wird. Alizas Bruder Harald hofft, dass seine Familie so vernünftig ist, eine Emigration ins Ausland ins Auge zu fassen, doch dafür ist es längst zu spät, zumal Samuel Landau seine Patienten nicht im Stich lassen möchte. Doch bald schon wird ihm die Approbation entzogen, so dass er nicht mehr praktizieren darf. Auch der Blockwart Karoschke wird zu einer Bedrohung für die Landaus. Die Situation verschlechtert sich zusehends für die Familie, deshalb entschließt sich Samuel, Tochter Aliza mit einem Kindertransport nach England zu schicken. Aliza will ihre Familie und vor allem ihren Verlobten Fabian Pagels nicht verlassen, doch es bleibt ihr keine andere Wahl. Während sie in England unterkommt, bricht der Krieg mit voller Macht aus und lässt die restliche Familie Landau in Berlin durch die Hölle gehen. Wird Aliza Fabian und ihre Familie bei Kriegsende wieder in die Arme schließen können?

Mit „Mehr als tausend Worte“ hat Lilli Beck einen sehr fesselnden, mitreißenden und vor allem berührenden Roman vor historischem Hintergrund vorgelegt, der die Lage während des Zweiten Weltkrieges und auch die ganze Tragödie der jüdischen Familien durch die Verfolgung der Nazis thematisiert. Der Erzählstil ist flüssig, bildgewaltig und gefühlvoll, der Leser erlebt während der Lektüre das gesamte Spektrum des Gefühlsbarometers. Die Autorin versteht es auf hervorragende Weise, ihre exzellent recherchierte Geschichte mit einer Intensität dem Leser zu transportieren, dass man das Gefühl hat, alles hautnah mitzuerleben, während man Aliza sieben Jahre bis zu ihrer Rückkehr nach Berlin im Jahre 1945 begleitet. Die schrecklichen Anfeindungen der geflüchteten Deutschen in England sind ebenso ernüchternd und furchterregend wie die furchtbaren Sanktionen in Deutschland, die Alizas Familie zu erdulden hat. Die damaligen Kindertransporte war zwar die Rettung für viele, riss allerdings auch viele Familien entzwei, die das Liebste, was sie besaßen in Sicherheit wissen wollten. Viele von ihnen haben sich nie wiedergesehen. Allein der Gedanke, sein eigenes Kind fernab in eine unsichere Zukunft zu schicken, ohne dass man es begleiten kann, schnürt einem beim Lesen schon die Kehle zu. Doch dieses Schicksal war für viele die Rettung. Die Autorin zeigt auch auf, wie sehr mancher die schreckliche Lage der Juden ausgenutzt hat und deren Hab und Gut mit falschen Versprechungen, Druck und Erpressung an sich gebracht hat und dabei auch keinerlei Unrechtsbewusstsein empfand. Die Autorin hat ein besonderes Händchen dafür, den Leser in Atem zu halten durch geschickte Wendungen, die die Spannung bis zum Schluß hoch halten.

Die Charaktere sind so individuell wie realistisch ausgearbeitet und wirken sehr lebendig. Der Leser durchlebt mit ihnen schrecklich, bittersüße, ängstliche und hoffnungsvolle Momente, als wäre er mitten unter ihnen. Aliza ist in ihrem jungen Alter noch etwa naiv und unschuldig, doch mit der Abholung ihres Großvaters und ihrer Reise nach England kann man ihr praktisch beim Erwachsenwerden zusehen. Sie ist einerseits eine Träumerin, die an ihrer große Liebe festhält, die ihr die ganze Zeit Hoffnung gibt, andererseits wird sie mit einer harten Realität konfrontiert, die sie wachsen lässt und ihr sowohl Stärke als auch Mut verleiht, denen man nur mit Respekt begegnen kann. Archibald ist ein Feingeist mit großem Herzen und viel Hilfsbereitschaft, was in diesen schlimmen Zeiten der Seele guttat, wenn man ihr begegnete. Mizzi wird Alizas Freundin und Wegbegleiterin, sie ist eine Opportunistin, die sich nimmt, was sie möchte und ihr wahres Gesicht erst am Ende zeigt. Blockwart Karoschke ist ein Mann, der auf den Zug der Nazis aufspringt und sich diesen zur eigenen Bereicherung zunutze macht. Auch die weiteren Protagonisten wie Harald, Samuel oder Ingrid geben der Handlung zusätzliche Spannung und Realismus.

„Mehr als tausend Worte“ ist zwar ein fiktiver Roman vor historischem Hintergrund, hat aber den Finger am Puls der damaligen Zeit und lässt den Leser Geschichte hautnah miterleben in einer Intensität, wie man sie in Büchern nur selten findet. Lilli Beck hat hier eine Meisterleistung vollbracht und einmal mehr gezeigt, was sie kann: tolle Geschichten so realistisch zu erzählen, dass der Leser von der ersten Seite an mittendrin ist. Absolute Leseempfehlung für ein Kleinod! Besser geht es nicht – Chapeau!