Rezension

Die verlorenen Kinder der DDR

Zwei fremde Leben - Frank Goldammer

Zwei fremde Leben
von Frank Goldammer

Bewertet mit 3 Sternen

Ricarda Weber erlebt 1973 das Schlimmste, was einer werdenden Mutter passieren kann: Ihr Kind stirbt während der Geburt in der Dresdner Frauenklinik. Doch Ricarda weigert sich zu trauern, da sich die Anzeichen mehren, dass ihr Kind nicht tot geboren wurde, sondern ihr weggenommen und stattdessen loyalen Parteigenossen übergeben wurde. Sie glaubt an einen von der DDR-Regierung angeordneten Falls von Kindesentführung, dem sie auch in den kommenden Jahrzehnten nachgeht. Unabhängig von ihr gerät der Fall auch in das Visier des jungen motivierten DDR-Polizisten Thomas Rust, der damals vor Ort war und die Geschichte durch Ricardas Lebensgefährten miterlebt hat. Wird die Wahrheit jemals ans Licht kommen?

„Zwei fremde Leben“ ist ein Roman, der sich schnell, flüssig und unkompliziert lesen lässt, da er in einem einfachen und  schnörkellosen Schreibstil verfasst wurde. Die Geschichte spielt sich in drei Zeitebenen ab, was hier als Stilmittel absolut passend ist und zusätzlich eindrucksvoll wirkt: 1973, als die Ereignisse in der DDR geschehen sind;  1993 als sie erstmalig aufgearbeitet werden  sollen und 2018, als es dann zur Aufklärung in der BRD kommt – soweit das nach so langer Zeit noch möglich war.

Der Leser begleitet die Protagonisten und auch zahlreiche Nebenfiguren während dieser Zeit und lernt sie somit in verschiedenen Lebensphasen immer besser kennen. Ricarda und Rust als Protagonisten verkörpern starke Kämpfernaturen, die moralisch an das Gute glauben und bereit sind gegen jeden Widerstand dafür zu kämpfen. Ricarda war mir anfangs noch sympathisch, allerdings fängt sie irgendwann an mich mit ihrem Kampf um die Wahrheit zu nerven. Leider wird sie auch vom Autor am Ende als das dargestellt, was alle anderen vorher schon gesagt haben: Dass sie hysterisch ist, übertreibt und einfach die Wahrheit nicht akzeptieren kann. Schade, ich hätte mir ein besseres Ende für sie gewünscht, der ganze Kern des Buches wird dadurch etwas abgeflacht.

Thomas Rust ist eine Person, die ich überhaupt nicht verstehen und nachvollziehen kann. Warum beschäftigt er sich so dermaßen mit der Geschichte des toten Babys? So sehr, dass er Grenzen überschreitet, Regeln bricht und sich selbst trotz mehrerer brenzliger Situationen und Rügen seitens seines Vorgesetzten in große Gefahr begibt, obwohl er doch besser für seine hochschwangere Frau da sein sollte? Und dabei nicht mal auf die Idee gekommen ist, die Mutter des Kindes zu befragen – was gerade  als Polizist naheliegend gewesen wäre. Auch seine plötzliche Wendung weg vom geliebten Staat kam so schnell, dass es unglaubwürdig und wenig nachvollziehbar war, v.a. weil er vorher so ein strenger Verfechter des Sozialismus und seines Staates war, dass er sogar zum Ministerium für Staatssicherheit wechseln wollte. Ein strenggläubiger Genosse und treuer Diener des Staates sieht anders aus und lässt sich nicht so leicht vom Glauben abbringen, der den Menschen damals indoktriniert wurde.

Was mir sehr gut gefallen hat waren die zahlreichen interessanten und schockierenden Einblicke in die Strukturen und Lebensweisen der DDR. Das Alltagsleben der damaligen Menschen und auch  die Zeit nach aus Sicht der Bürger erschien mir sehr authentisch. Insbesondere die  DDR-Nostalgie der älteren Generation nach Zusammenbruch des Staates war sehr gut dargestellt. Es ist wirklich traurig, was damals geschehen ist und auch für die Menschen heute, wie lange der Weg dauert die Wahrheit herauszufinden, z.B. Einblick in eigenen Stasiakten zu erhalten oder die Enttäuschung darüber zu verarbeiten, welche Personen als indirekte Stasi-Mitarbeiter welche Infos über einen gesammelt und weitergegeben haben. Für mich ist es sehr schockierend mir vorzustellen, dass das wirklich Realität war.

Und deshalb hat mich das Ende des Buches leider etwas enttäuscht und unbefriedigend zurückgelassen. Die plötzliche Wendung und Verwirrung am Schluss sowie die leicht reißerische „Familienzusammenführung“ hätten wirklich nicht sein müssen und waren übertrieben. Auch wurde der Fall meiner Meinung nach etwas zu sehr einfach nach Schwarz-Weiß-Denken gelöst: Der böse Schurkenstaat und die Stasi sind an allem schuld. Des Weiteren hätte ich mir am Ende einen Bezug zu den Hintergründen gewünscht und in diesem Fall schon fast erwartet: Warum hat uns der Autor nicht an seinen Rechercheergebnissen teilhaben lassen? Irgendwie muss er ja inspiriert worden sein. Gab es tatsächlich solche (Verdachts-)Fälle in der  DDR und was weißt darauf hin? Was an der Geschichte  ist fiktiv, was erfunden? Wo gibt es Informationen zu den wahren Hintergründen oder sogar Hilfsangebote für Betroffene? Ein Buch, dass mich mit mehr Fragen als Antworten zurückgelassen hat. Schade!

Mein Fazit: „Zwei fremde Leben“ ist ein angenehm zu lesendes Buch mit einer wichtigen Story mit großem Potenzial, das leider bei weitem nicht ausgeschöpft wurde.