Rezension

Die Vollkommenheit jenseits der Perfektion

Ein fast perfektes Wunder - Andrea De Carlo

Ein fast perfektes Wunder
von Andrea De Carlo

Bewertet mit 5 Sternen

Am heutigen Tag, der für Ende September noch einmal überraschend warm war, ist bei Diogenes ein neues Buch erschienen, das sich prächtig darauf versteht, die Sehnsucht nach dem Sommer aufkommen zu lassen. Die Erzählung über handgemachtes Eis, über Rockmusik und über die Liebe ist eine wundervolle Erinnerung daran, dass manchmal das beste im Leben ganz unerwartet geschieht.

 

Die Angst vor der Entscheidung

Weder Milena, die weibliche Hauptfigur, noch Nick, der Protagonist, sind wirklich glücklich in ihrem Leben, doch sie sind, zumindest am Anfang, nicht wirklich in der Lage, das zu sehen. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, wird es plötzlich gefährlich, sich einzugestehen, dass man bisher auf dem Holzweg war. Denn man hat viel Zeit verloren. Kann ein Mann, der schon zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat und trotz einer jahrzehntelangen Karriere als Rockmusiker immer noch erfolgreich ist, sich wirklich kurz vor der dritten Hochzeit ehrliche Gedanken darüber machen, ob er diese Ehe eigentlich will? Und kann eine Frau, die nach diversen Enttäuschungen mit Männern endlich ihr Glück in einer anderen Frau gefunden zu haben scheint, wirklich ernsthaft in Frage stellen, ob sie zum nächsten Schritt, zum gemeinsamen Kind, wirklich bereit ist?

Als erwachsener Mensch läuft man sehr schnell in Fallen, gerne auch sehenden Auges. Man spürt, dass man irgendwann falsch abgebogen ist und sich seitdem auf dem Holzweg befindet, doch man weiß auch, dass man nicht mehr so jung ist, dass man nicht mehr so viel Zeit hat, also bleibt man auf dem Pfad, denn das ist immer noch besser, als vor dem unbekannten Nichts zu stehen. Lieber zwingt man sich zu Entscheidungen, hinter denen man nicht mit vollem Herzen stehen kann, von denen man weiß, dass sie einen unglücklich machen werden, als dass man den langjährigen Partner verlässt oder seine Karriere aufgibt.

Das alles stellt der Autor in seinem Roman auf wundervolle Weise dar. Nick ist erfolgreich als Rockmusiker, die ganze Welt kennt ihn, doch glücklich ist er nicht. Er will sich verändern, er verachtet so ziemlich alle Menschen in seinem Leben, doch er ist zu zynisch, als dass er aus eigener Kraft einen Kurswechsel schaffen würde. Er schluckt seine Wut und seine Aggressionen immer wieder hinunter, um ein Weitermachen zu ermöglichen. Auch Milena lässt es zu, dass sie in ihrer Beziehung zu einer anderen Frau immer mehr in alte Rollenmuster, die eigentlich nur zwischen Mann und Frau zu finden sein sollten, verfällt, denn sie will die Beziehung nicht aufgeben, und schon gar nicht will sie einen Mann als Partner – Männer sind der Feind.

 

Menschliche Augenöffner

Dann treffen sich die beiden an einigen wenigen aufeinanderfolgenden Tagen, zunächst zufällig, dann beinahe schon geplant. Sie spüren instinktiv, dass der andere sich ebenso verloren fühlt wie sie selbst. Nick erkennt die Komplexität der Eiskreationen, die Milena Tag um Tag aufs Neue erschafft, und beinahe ohne Worte können sie miteinander auf einer Ebene kommunizieren, die ihnen mit anderen Menschen bisher stets verwehrt geblieben ist. Gefühlvoll, ausschweifend, aber vor allem unaufdringlich beschreibt Andrea De Carlo die Gedankenwelt beider Menschen. Über 300 Seiten werden wir Zeuge ihrer Zweifel, ihrer Ängste, aber auch ihrer Hoffnungen.

Und dann, beinahe wie in einem Quentin-Tarantino-Film, entlädt sich die ganze angestaute Energie in einem einzigen Knall, der das Universum aller Beteiligten aus den Angeln reißt. Der Höhepunkt dieses Romans ist gleichzeitig unerwartet und vorhersehbar, wahnsinnig komisch und tragisch. Und genau deswegen wirkt dieses Roman, denn die Figuren sind echt, ihre Ängste sind echt und die tragische Komik der Falle, in der sie sich befinden, ist jedem erwachsenen Menschen nur zu bewusst. Das Buch berührt, es macht nachdenklich und es zeigt, dass jeder von uns Angst vorm Neinsagen hat, Angst vor Versagen, Angst vor dem Unbekannte. Es verurteilt nicht dafür, sondern zeigt stattdessen, dass Mut durchaus belohnt werden kann.

 

Fazit:

Der Roman „Ein fast perfektes Wunder“ von Andrea De Carlo ist ein kraftvolles Loblied auf den Mut zur Veränderung. Doch gleichzeitig erinnert er uns, dass wir alle nicht perfekt sind, dass wir alle Ängste in uns tragen, dass wir Liebe und Halt und Geborgenheit suchen. Unaufdringlich beweist der Autor, dass das Leben komplex und die Möglichkeiten da sind, wenn wir nur den Mut finden, Türen zu schließen, um andere öffnen zu können. Die Geschichte um Milena und Nick hat mich tief berührt, denn sie wirkte so lebensnah und regte gleichzeitig zum Träumen an, dass ich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt war.