Rezension

Die Wahrheit ist die Lüge, an die du glaubst...

Das Erbe - R. R. Sul

Das Erbe
von R. R. SUL

Bewertet mit 4 Sternen

»Ich war sieben, als ich einen Helm bekam, der mich vor der Sonne schützte. Davor lebte ich nur in der Nacht.«

Was wird aus einem Menschen, dem von klein auf eingeflüstert wird, er sei unheilbar krank? Als Kind schlief Wolf tagsüber, nachts war er wach. Die Wohnung durfte er nur mit einem Motorradhelm verlassen – er habe die Mondscheinkrankheit, behauptete die Mutter. Als ein Arzt ihre Lüge aufdeckt, bringt sie sich um. Heute, als Erwachsener, lebt Wolf zurückgezogen in seiner Wohnung, die Wände verkleidet mit Puzzles. Ein Mann taucht auf, der sagt, er sei sein Bruder. Freddy wirkt rätselhaft auf Wolf, ein Mensch ohne moralischen Kompass, trotzdem nimmt Wolf sich seiner an. Und wird erneut hineingezogen in einen bedrohlichen Kampf um die Wahrheit seines eigenen Lebens. Rau, dunkel schillernd und soghaft erzählt ›Das Erbe‹ vom Vermächtnis einer zerstörerischen Familie.

Wenige Menschen nur berühren das Leben von Wolf, und entsprechend klein ist die Zahl der Personen, denen man hier im Roman begegnet. Der größte Teil der Charaktere gehört zur Familie - und irgendwie scheint hier jeder auf seine Art gestört.

Wolf selbst, aus dessen Ich-Perspektive hier erzählt wird, durchlebt schon eine außergewöhnliche Kindheit. Die Mutter leidet am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, und so wächst Wolf in dem Glauben auf, dass er die Mondscheinkrankheit hat. Ein Helm gegen die Sonneneinstrahlung, ständiges Eincremen mit hohem Lichtschutzfaktor, der Spielplatz nur im Dunkeln, wenn alle anderen Kinder schlafen - die Folgen sind mannigfaltig und Wolf vor allem eines: einsam.

Auch als sich eines Tages herausstellt, dass die Krankheit nur der Fantasie seiner Mutter entspringt, verliert Wolf zwar seinen Helm, nicht jedoch das Gefühl der Einsamkeit. Selbst im Erwachsenenalter fühlt er sich alleine am wohlsten, meidet die Gesellschaft anderer und redet ausschließlich mit seinem geerbten Papagei. Die Liebe von und zu einer Freundin aus Kindertagen erweist sich als sehr wechselhaft, und Linas Problem ist ein anderes, nämlich der Glaube an das Gute und zunehmend mehr Gin gegen die Verzweiflung .

Skurril wird es, als Wolfs Halbbruder Freddy auftaucht. Aus heiterem Himmel steht er vor der Tür, bringt Wolfs Leben aus dem Lot und wirft viele Zweifel auf das, was Wolf zu wissen glaubt. Ist Freddy das personifizierte Böse oder einfach nur eine ebenso verzweifelte Seele wie Wolf? Während Wolf sich mit zunehmendem Alter verändert und sich mit dem Leben arrangiert, haftet Freddy das Dunkle, das Bedrohliche an, das Wolf jedoch nicht zu fassen bekommt. Sein Halbbruder entzieht sich den Versuchen, ihn zu verstehen oder ihn in seinem Denken und Handeln auch nur irgendwie zu fassen zu bekommen.

Mysteriöse Ereignisse, die Wolf z.T. den Boden unter den Füßen wegziehen, könnten Freddys Handeln zugeschrieben werden - aber ist das tatsächlich so? Diese Zweifel ziehen sich durch den Roman, ebenso wie die Anziehungskraft, die die beiden Halbbrüder aufeinander ausüben. Doch welchen Preis hat es, wenn Wolf sich nicht von Freddy lösen kann?

Der Roman entwickelte auf mich einen eigentümlichen Sog, verwirrte mich aber zugleich auch und lässt mich letztlich mit etlichen Fragezeichen zurück. Schon das Ende ist für mich nicht klar - was bedeutet das? Hier wird viel Interpretationsspielraum geboten, der mich streckenweise überfordert hat. Mir ist nicht deutlich, was der Autor schlussendlich mit dem Roman ausdrücken wollte - dass man seinem Erbe nicht entkommt?

R.R. Sul ist lt. Verlag das Pseudonym eines/r deutschsprachigen Schriftsteller/in. Der Verlag weiß selbst nicht, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt, der Vertrag besteht mit einer Agentur - allein das klingt schon mysteriös und lässt die Frage entstehen, wie viel Persönliches in dem Roman steckt. "Schreiben hat immer mit einem selbst zu tun. Auch dann, wenn es nicht autobiografisch ist. ", verkündet der Autor selbst in dem bislang einzigen erschienenen Interview zu seinem Buch. Was alles offen lässt...

Dunkel und eindringlich ist die Erzählung, eloquent der Schreibstil - und doch stören mich die ungelösten Fragen am Ende ein wenig. Die Handlung erscheint phasenweise fast schon surreal und wenig vorstellbar, doch als Ganzes gesehen ergibt sich hier eine ungewöhnliche und eindrucksvolle Komposition, die das Gefühl der Verstörung bis zum Schluss aufrecht erhält.

Für mich durchaus beeindruckend...

 

© Parden