Rezension

„Die Wahrheit, so bitter sie auch sein mochte, war, dass seine Worte ihm nicht mehr gehörten, sobald sie einmal draußen in der Welt waren“

Alles, was wir sind - Lara Prescott

Alles, was wir sind
von Lara Prescott

Diese Wahrheit bekommt Autor Boris Pasternak hart zu spüren: In der Sowjetunion der 50er Jahre arbeitet der Schriftsteller mit Leidenschaft an seinem ersten Roman „Doktor Schiwago“. Ein Roman, vor dem sich die Sowjetregierung berechtigterweise fürchtet, weil sie vermutet, dass darin die politischen Verhältnisse und die Auswirkungen der Oktoberrevolution stark kritisiert werden. Das Regime versucht Pasternak also daran zu hindern, den Roman zu vollenden. Um den Autor unter Druck zu setzen, schrecken die Herrschenden auch nicht davor zurück, seine Geliebte und Muse Olga unter grausamen Bedingungen in einem Arbeitslager zu inhaftieren. Doch der Schriftsteller lässt sich nicht beugen, beendet den Roman und versucht, ihn in der Sowjetunion zu publizieren. Ein aussichtsloses Vorhaben. Im Westen erkennt währenddessen die CIA in den USA das Potenzial des Romans und möchte ihn als Waffe gegen das Sowjet-Regime einsetzen. Er soll heimlich wieder in die Sowjetunion geschmuggelt, dort unters Volk gebracht werden und Misstrauen der Regierung gegenüber schüren. Lara Prescotts Geschichte, spielt einerseits im Osten und beschreibt dort Olgas und Pasternaks Situation, andererseits im Westen, wo es um Mitarbeiter und Agentinnen geht, die an der Shiwago-Mission beteiligt sind. 

 

Vor langer Zeit habe ich Doktor Schiwago gelesen, keine leichte Kost. Ich habe mit dem Buch gerungen, empfand es aber als eines jener seltenen besonderen Bücher, die einen für lange Zeit beschäftigen und von denen man das Gefühl hat, dass sie etwas ganz Großes, ein Meisterwerk, sind. Daher habe ich mich sehr auf Lara Prescotts Roman gefreut, deren Eltern es mit der Verfilmung des Buches anscheinend genauso erging. Schließlich benannten sie ihre Tochter gar nach der Hauptfigur. Ich hoffte in dem Buch etwas vom „Geist“ von Pasternaks Original zu finden, das mich damals so fasziniert hatte.

 

Schon die äußerliche Aufmachung fällt sehr positiv ins Auge, sie wirkt sehr hochwertig. Auch der Beginn des Romans schien meine hohen Erwartungen zu erfüllen. Die verschiedenen Perspektiven aus dem Osten und den Westen, der für mich schöne Erzählstil, das passte perfekt zusammen. Ich hoffte darauf, dass sich die verschiedenen Stränge im Verlauf des Romans zu einem harmonischen Runden Ganzen zusammenfügen würden und dass Pasternaks mit dem Nobelpreis prämierter Roman Doktor Shiwago, seine Entstehung, die Vorbilder der Protagonisten, sein Inhalt, seine Botschaft eine größere Rolle spielen würde. 

Dies passierte aber nur bedingt. 

Über lange Strecken konzentrierte sich die Handlung auf den Westen, also die Mission, Doktor Shiwago im Osten zu verbreiten, ohne dass sich mir dabei die wahre eigentliche Bedeutung des heiß umkämpften Buches erschloss. Die Handlung um die mit der Mission betrauten CIA- Mitarbeiterinnen Irina und Sally vermochte es leider nicht, mich zu fesseln und wirkte irgendwie hölzern. Überhaupt empfand ich für die Figuren des Romans wenig Sympathie. Pasternak wurde für mich in diesem Buch regelrecht entzaubert, wird er doch als eigensüchtiger, narzisstischer alter Mann dargestellt, der sich gerne im Selbstmitleid suhlt. Auch die anderen Protagonisten, ihre Gefühle und Beziehungen gingen mir nicht nahe.

 

Zum Schluss läuft die Autorin noch einmal zur Hochform auf und gelangt meines Erachtens zu einem versöhnlichen und stimmigen Ende. Trotzdem kompensiert das die Schwächen des Mittelteils, die unnötigen langwierigen Passagen über die trockene „Mission Shiwago“ nicht. Der Funke sprang zu selten über, den Bezug zu Doktor Shiwagos und seinen Einfluss auf Prescotts Erzählung suchte ich über lange Strecken vergebens. Für mich wurde das große Potential der Geschichte leider nicht ganz ausgeschöpft. Vermutlich waren aber meine Erwartungen auch einfach viel zu hoch, denn selbstverständlich sind Pasternaks Fußstapfen eine Nummer zu groß für Prescott. Wer sonst bekommt schon für seinen ersten Roman gleich einen Literaturnobelpreis verliehen? 

Betrachte ich diesen Roman weitgehend unabhängig von seinem großen „Vorbild“, bereue ich es aber keineswegs, ihn gelesen zu haben und empfehle den Lesern, dieses Buch zuerst zu lesen und sich dann anschließend an Shiwago in der Buch- oder Filmversion zu wagen.