Die Wildnis als Zuflucht vor Rollenzwängen?
Bewertet mit 4.5 Sternen
Die 16jährige Eden Chase ist immer hungrig, weil ihr Körper nicht den klischeegeleiteten Anforderungen ihrer Stiefmutter entspricht und sie eine strenge Diät einzuhalten hat. Als Vater Lawrence Chase wegen mehrerer Tatbestände verhaftet wird, packt seine Frau Vera ihre Koffer und verschwindet. Eden wird vom Jugendamt übergangsweise bei James/Jimmy, ihrem Onkel mütterlicherseits untergebracht, der im Happy Valley Wildreservat arbeitet. Hier gibt es nur Wald, Campingplatz und Heimwerkerläden. Der Wechsel aus einer feudalen Villa in eine einfache Zwei-Raum-Hütte, von der kostspieligen Privatschule in die öffentliche Schule für Jedermensch klingt krass.
Eden jedoch beginnt den neuen Lebensabschnitt mit dem neuen Namen Rhi/Rhiannon und arbeitet durch James Vermittlung als angestellte Kontrolleurin der Wanderwege im Reservat. Auf ihrem Kontrollgang trifft Rhi auf eine Gruppe verwilderter Mädchen, von denen eins offenbar in ein rostiges Tellereisen getreten ist. Rhi will spontan helfen, spürt jedoch sofort, dass Oblivienne, Sunder, Epiphanie und Verity in der Welt nicht sie selbst bleiben können, die Rhi gerade verlassen hat. Die schiere Menschenmenge und dass man in einem Krankenhaus Befehle erhält, die nicht als Vorschläge gedacht sind, befremdet dann prompt das kleine Rudel, das zuvor mit einer männlich gelesenen Person lebte, die sich „Mutter“ nannte. Mutter hat die Gruppe offenbar für ein Leben in Freiheit ausgebildet, in der es für junge Frauen jene Zwänge durch Rollenzuschreibungen nicht gibt, unter denen Rhi zuvor gelitten hat. Voller Selbstvorwürfe grübelt Rhi, ob die verletzte Sunder hätte überleben können, ohne das Geheimnis des „Wilden Schlosses“ zu verraten, des hohlen Baumriesen, in dem Mutter mit dem Rudel lebte. Seine Erziehungsziele kleidete der sonderbare Naturbursche in eine fantastische Geschichte der fünf Prinzessinnen, die nur gemeinsam durch ein Portal das Land Leutheria betreten würden. Sollte Rhi die fünfte Prinzessin sein?
Die Erzählstimme, die rückblickenden „Erinnerungen der Mädchen von Happy Valley“ und Obliviennes Tagebucheinträge wechseln ab mit Mails, die Rhi verfasst, ohne sie abzuschicken. Sie verschließt bisher offenbar ein Geschehen aus ihrer Vergangenheit, für das ihr noch ein vertrauenswürdiger Gesprächspartner fehlt. Nur von einer der Rudelmädels werden Angehörige gefunden, die drei anderen sind derweil in Pflegefamilien mit Versuchen konfrontiert, sie zu zähmen und ihnen ihr waldschratmäßiges Auftreten abzuerziehen. Das Verhältnis in und zwischen den Klein-Gruppen (Waldmädchen und Rhi, Rhis Angehörige, Pflegeeltern und -kinder) entpuppt sich in der modernen Welt als unerwartet konfliktreich, obwohl die Psychiaterin Dr. Ibanez die Mädchen mit großer Empathie betreut. Schließlich wird ein äußerst kritischer Blick nötig, wer aus dem Thema Waldmädchen Profit zu schlagen versucht. Neben der Heldin Rhi konnten mich besonders James und Dr. Ibanez berühren, während weiteren Figuren ein kritischerer Blick auf ihre Motive gutgetan hätte …
Fazit
Madeline Claire Franklin will mit ihrem spannenden, deutlich feministischen Waldabenteuer beinahe zu vieles: es geht u.a. um Rollenzuschreibungen, Bodypositivity, Stieffamilien, Gewalterfahrungen, Märchen, Wölfe und Unterstützerpersonen für Jugendliche in Krisensituationen. Konzentration auf weniger Themen hätte dem Roman gutgetan, ebenfalls ein selbstkritischer Blick auf Franklins eigene Klischees (Stieffamilienmitglieder sind offenbar immer böse). Klischees wie dieses sind häufig das Fundament für Victimblaming und konterkarieren Franklins gute Absicht.