Rezension

Die zerstörerische Macht der Familie

Das Erbe - R. R. Sul

Das Erbe
von R. R. SUL

Bewertet mit 4 Sternen

Eine Lektüre, die mich fesseln konnte, aber auch ein wenig ratlos zurückgelassen hat

Eine Blechkiste mit wenigen Dingen hinterlässt Großvater Wolf seinem Enkel Karlchen, aber auch 221 Seiten Papier. Darauf schildert er sein Leben. Als Kind darf Wolf nur mit einem Helm oder anderem Sonnenschutz vor die Tür. Meist schläft der Junge tagsüber. Nachts ist er wach, denn die Mutter glaubt oder behauptet zumindest, das Kind habe die Mondscheinkrankheit. Ein Umstand, der ihn von vielen Gleichaltrigen isoliert und ihn zum Alleinsein verdammt. Zwar stellt sich nach Jahren bei einem Arzt heraus, dass das mit der Krankheit ein Irrtum war. Doch auch als Erwachsener meidet Wolf das geschäftige Treiben draußen in der Stadt Hannover. Stattdessen zieht er die Nacht und ihre Einsamkeit vor. Das ändert sich erst, als Freddy, sein in England aufgewachsener Halbbruder, den er zuletzt als Baby gesehen hat, plötzlich bei ihm auftaucht. Aus der Freude über das Wiedersehen wird jedoch bald eine dunkle Ahnung, dass Wolf nicht die ganze Wahrheit über sein Leben kennt und Freddy eine Bedrohung für ihn werden könnte…

„Das Erbe“ ist der Roman eines deutschsprachigen Autors, der unerkannt bleiben will und unter dem Pseudonym R.R. SUL geschrieben hat.

Meine Meinung:
Der Roman beginnt mit dem Brief an den Enkel, der als eine Art Prolog fungiert. Darauf folgen einige Kapitel, die wiederum in Abschnitte untergliedert sind. Der Roman umfasst einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten und spielt – aus heutiger Sicht - mal in der Vergangenheit und mal in der Zukunft. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Wolf – allerdings nicht streng chronologisch, denn es gibt immer wieder Zeitsprünge. Dennoch lässt sich die Geschichte gut verfolgen.

Sprachlich ist der Roman einzigartig. Der Schreibstil wirkt durch die kurzen, aber prägnanten Sätze und Satzteile zunächst recht simpel, erweist sich aber über weite Strecken als eindringlich und intensiv. Dem Autor gelingt es, mit wenigen Wörtern viel Atmosphäre zu transportieren. Besonders gut gefallen haben mir die treffenden und kreativen Sprachbilder, die sich durch den gesamten Text ziehen.

Mit Wolf steht ein interessanter, aber auch befremdlicher Charakter im Vordergrund. Sein Verhalten ist ziemlich speziell, zum Teil sogar verstörend, und stellenweise durchaus extrem. Auch die übrigen Personen sind recht eigenwillig und mehr oder weniger sonderbar.

Die Thematik hat mich sofort angesprochen. Die Macht, die die Familie auf Menschen und ihre weitere Entwicklung ausübt, die Suche nach der Wahrheit und die Nachwirkungen einer traumatischen Kindheit bringen psychologische Tiefe in die Geschichte und regen zum Nachdenken an.

Der Roman beginnt mit einem grandiosen Einstieg und erzeugt schon nach wenigen Seiten eine starke Sogkraft, die jedoch im weiteren Verlauf etwas abflacht. Durchweg herrscht eine gewisse Grundspannung, die dazu verleitet, zügig weiterzulesen. Die Handlung ist sehr dicht, auf nur etwas mehr als 200 Seiten passiert viel. Zudem spielt der Roman mit der Frage: Was ist die Wahrheit? Es entsteht ein Verwirrspiel, bei dem der Leser nicht weiß, wem er glauben soll und wem er trauen darf. Der Schluss hat mich allerdings ein wenig enttäuscht, denn für meinen Geschmack bleiben zu viele zentrale Fragen offen, zu viele Rätsel ungeklärt und zu viele Widersprüche unaufgelöst. Darüber hinaus wird das Geschehen zum Ende hin immer abstruser und leider auch unrealistischer.

Die düstere optische Aufmachung der gebundenen Ausgabe macht einen wertigen Eindruck und passt gut zum Inhalt. Auch der vieldeutige Titel ist eine gute Wahl.

Mein Fazit:
„Das Erbe“ von R.R. SUL ist ein interessanter und aufwühlender Roman. Eine Lektüre, die mich fesseln konnte, aber auch ein wenig ratlos zurückgelassen hat.