digitaler Ausstieg
Bewertet mit 4 Sternen
Mila, Mitte dreißig und Single, beschließt, aus dem world wide web auszusteigen. Zunächst löscht sie ihren Instagram Account und sämtliche dating apps. Bei google beantragt sie die Löschung sämtlicher Einträge ihrer Person. U.a. you tube und e-mails entfallen, da sie weder smartphone noch PC einschaltet.
Sie ist getrieben von der Angst, digital aufspürbar, überwacht, gemobbt, gecancelt und jederzeit beobachtet zu werden. Ihr Bestreben, sämtliche digitalen Spuren von sich zu löschen und zu vermeiden wird im Verlauf des Romans zur Obsession.
Ich habe diesen Roman gerne gelesen. Er spielt während der Zeit der Corona Pandemie und des anbrechenden Ukrainekrieges, also in der jüngsten Vergangenheit, was mir gefallen hat. Auch die Brände im Berliner Grunewald werden beschrieben: Auswirkung einer weiteren Krise, nämlich des Klimawandels, oder nur explodierte Weltkriegsmunition ? Jedenfalls ebenso beunruhigend wie alles andere, z.B. die aufkommende Inflation und Geldnöte.
Die Angst Milas vor dem Internet, den sog. sozialen Medien und vor den Gefahren von Elektrosmog, der von Handys und elektrischen Leitungen ausgehen könnte, wird sehr überzeichnet dargestellt. Durch die Isolierung in der Hochzeit der Pandemie verstärkt sich Milas Obsession noch. Sie ist einsam, hat nur noch ihre Freundin Selma und Ihren Bruder, der Impfgegener ist und sich noch mehr abschottet als sie, und ihre Oma in Hessen als feste menschliche Bezugspunkte. Ihre befristete Doktorandenstelle läuft aus, sie bezieht Arbeitslosengeld und fasst beruflich nicht wieder Fuß. Ich hatte den Eindruck, dass Mila durch die analoge Welt taumelt, abgeschnitten vom Internet, zwischen Berlin, Hessen, wo sie aufgewachsen ist und Norwegen, wo sie am Ende in einer Ferienhauswohnung landet.
Sie schläft sehr viel, schaut am Anfang noch stundenlang Serien, bis sie sich auch hier ausklinkt, langweilt sich, die Tage werden lang. Wo ist die Lebensfreude, die Lebendigkeit, die Farben, das Ziel ? In Norwegen dunkelt Mila sogar die Ferienwohnung ab um sich vor Strahlung zu schützen. Sie isoliert sich immer mehr.
Die Autorin erzählt all dies in einer unterhaltsamen Sprache mit zeitweise durchaus witzigen Passagen. Eine literarische Granate, was die Sprache angeht, und wie auf dem Klappentext bemerkt ist, ist der Roman m. E. jedoch nicht. Der Leser fragt sich, kann ein Leben ohne digitale Anbindung heutzutage gelingen ? Kann ein junger Mensch, der das Leben ohne smartphone, Internet, social media etc. fast gar nicht mehr kennt, überhaupt und gerade auch in Krisenzeiten psychisch gesund bleiben ? Wie sieht es mit denen aus, die das Leben noch ohne Internet und social media kennen ? Leben wir eigentlich noch oder schauen und fotografieren wir nur noch durch die Linse des smartphones, auf der Jagd nach immer neuen Statusmeldungen, Klicks und Storys ? Wie frei und selbstbestimmt sind wir noch ?
Zu solchen Fragen/Gedanken regt der Roman an. Allerdings hätte ich mir insofern eine tiefgründigere Auseinandersetzung mit dem Thema gewünscht. M. E geht der Roman über die tagebuchartige Darstellung des in der Ich-Form Erzählten nicht hinaus. Eine Antwort oder Lösung ist am Ende, das leider offen bleibt, nicht in Sicht. Die muss wohl jeder für sich allein finden.
Ich vergebe 4 Sterne und ein Leseempfehlung.