Rezension

Diktatur vor Gericht - Prüfe nicht nur den Zweck, sondern auch die Mittel!

Corpus delicti
von Juli Zeh

Wie insektenhaft klein und machtlos der Einzelne vor dem Gesetz ist, haben schon andere in der Literatur zum Thema gemacht, aber Juli Zeh beweist, dass es für jede Gesellschaft erneut notwendig ist. Notwendig nämlich vorzuführen, warum in einem Rechtsstaat der Einzelne eben nicht machtlos sein darf vor dem Staat, indem das Gegenteil erzählt wird.

Juli Zehs düstere Zukunftsvision hat die Stärke aller guten Dystopien: Sie nimmt Entwicklungen der Zeit auf, überzeichnet sie ungebrochen in die Zukunft und konstruiert daraus eine Welt, in der wir nicht leben wollen. Mia Holl lebt in einer gesunden Welt. Die METHODE hat dafür gesorgt, dass die Krankheit aus der Gesellschaft verschwindet und hat gleichzeitig auch jedes Fehlverhalten, dass erhöhtes Krankheits- oder Unfallrisiko darstellt, unter drakonische Strafen gestellt. Der Staat, dessen totalitäres, ideologisches Mark durch den Journalisten Heinrich Kramer repräsentiert wird, verpflichtet jeden Einzelnen zu Sport, Gesundheitsvorsorge, Abstinenz und legt sogar die Fortpflanzung nach rationalen Kriterien fest. Wenn heutzutage diskutiert wird, ob diese oder jene Risikogruppe mehr in die Krankenkasse einzuzahlen hat, wie sie zum Beispiel zu dick ist, oder eine Mitschuld an dieser oder jener Krankheit hat und zur Selbstbeteiligung aufgerufen ist, dann ist dies der erste Schritt in Mia Holls Hölle der totalen Gesundheit.

Mias Bruder Moritz ist in diesem System krank geworden, in dem der freie Wille durch rationale Entscheidungsfestlegungen ersetzt wurde, und hat sinnigerweise den größtmöglichen Frevel begangen: sich selbst zu ermorden, als er unter Mordanklage stand.

Diese Anklage ist das erzählerische Vehikel, mit dem Juli Zeh die METHODE vor Gericht zerrt. Als Juristin kennt sich die Autorin gut aus in Verfahrensfragen und weiß um die dialogische Natur eines gerichtlichen Streits. Im Dreiklang zwischen Anlage, Verteidigung und öffentlicher Berichterstattung stürzt man bei der Lektüre in die Hilflosigkeit der Protagonistin und richtet sich am Ende mit ihr wieder auf, wenn Mia ihre Schwäche in Stärke ummünzt.

Der Roman ist als gesellschaftliche Warnung vor den totalitären Tendenzen im Namen des vermeintlich Guten und Rationalen sehr gut gelungen. Man muss eben stets nicht nur den Zweck, sondern auch die Mittel prüfen!

Die Herkunft des Romans vom Theater merkt man ihm häufig an. Die Dialoge zwischen Mia Holl und Kramer lesen sich ausgesprochen bühnenhaft, was aber nicht stört. Wohl aber stört der minimalistische Stil, der paragraphenhaft knapp ein extrem klinisches Klima erschafft. Das erschwert eingangs den Zugang, löst sich dann aber im Dialog auf.

Klare Empfehlung.