Rezension

Distanz und Nähe

Die Enkelin -

Die Enkelin
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 5 Sternen

Der Buchhändler Kasper ist mit Birgit liiert, die er als Student in Ostberlin kennenlernte und der er zur Flucht in den Westen verhalf. Birgit entwickelt schwere Depressionen und flieht zum Alkohol. Aufopferungsvoll kümmert sich Kasper um sie, obwohl die Beziehung keine wirkliche Nähe mehr ausstrahlt. Kasper hat sie immer geliebt, während Birgit ihn zumindest gedanklich im Stich ließ und sich bisweilen auch örtlich von ihm distanzierte, z.B. zu ihrem Selbstfindungstrip in Indien, aber auch im eigenen Haus, wo sie ihr eigenes Reich hatte. Kasper musste anklopfen, um mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Nach Birgits Tod begreift Kasper, dass seine Frau sich ihm nie wirklich geöffnet hat und viele Geheimnisse mit sich trug. Da war eine tiefe Distanz zwischen ihnen. Birgit wollte sich selbst finden, aber Kasper hatte sie davon ausgeschlossen. Sie hat ihr Leben aufgeschrieben und durch das Lesen dieser Seiten versucht Kasper, ihr nahe zu kommen und sie zu verstehen. Auf diese Weise erfährt er, dass Birgit in der DDR heimlich ein Kind geboren hat und dieses seinem Schicksal überließ. Sie hat erfolglos versucht, dieses Kind zu finden. Kasper begibt sich nun auf die Suche, und man fragt sich warum, zumal dieses Kind nicht sein Kind ist. Ich denke, es ist ein letzter Versuch, Birgit nahe zu kommen. Vielleicht ist es auch seine Einsamkeit, die ihn antreibt.
Tatsächlich findet er Birgits Tochter Svenja und ihre Familie, wird auch hier in völkischem Umfeld sehr auf Distanz gehalten, lernt aber Birgits Enkelin Sigrun kennen, zu der er eine gewisse Nähe aufbaut. Er schafft es sogar, dass Sigrun ihn in den Ferien besuchen darf. Hier allerdings habe ich mich gefragt, wie wahrscheinlich es ist, dass Eltern ihr Kind zu einem nahezu Fremden fahren lassen, nur wegen des Geldes? Kasper überschüttet Sigrun mit positiver Zuwendung und Geschenken und hofft, sie von ihrem rechten Gedankengut ganz allmählich abbringen zu können, seine Zuwendung zu ihr erscheint mir bisweilen wie eine Obsession. Teilweise habe ich das Gefühl, dass sie eine gewisse Macht auf ihn ausübt, der er sich unterwirft.
Ich habe durch diesen Roman interessantes Hintergrundwissen erlangt, z.B. über die Welt der Jugendlichen in der ehemaligen DDR, ihre Verpflichtungen und ihre Grenzen, aber auch die Völkischen waren mir bislang fremd. Die Themen Rassismus und Diskriminierung habe ich in einem anderen Licht kennengelernt.
Zunächst fiel es mir schwer, in den Roman hineinzufinden, aber nach dem Einlesen hat er mich nicht mehr losgelassen und mich gedanklich sehr beschäftigt. Besonders gefallen haben mir die ausgefeilten Persönlichkeitsprofile, in all ihrer Vielfalt an Einstellungen und Reaktionen.
Es ist ein anspruchsvolles Buch, in das man sich einarbeiten muss, um die beschriebene Welt zu begreifen. In meinen Augen ist es hochinteressant und spannend. Ich spreche gern eine Leseempfehlung aus.