Rezension

Drei Lebensbilanzen - und ein ungeklärter Vermisstenfall

Jenseits der Erwartungen
von Richard Russo

Bewertet mit 5 Sternen

Die drei Freunde Lincoln, Teddy und Mickey sind 66 Jahre alt und treffen sich vermutlich ein letztes Mal in Lincolns Ferienhaus auf Martha’s Vineyard. Lincoln will das Haus verkaufen, doch noch ist das letzte Wort darüber nicht gesprochen. Die  drei Männer studierten gemeinsam, sie waren damals auf ein Stipendium und einen Nebenjob angewiesen und hatten es an kein Elite-College der Ostküste geschafft. Sie mussten sich zur Zeit des Vietnamkriegs zwischen Wehrdienst und Fahnenflucht entscheiden, voller Unsicherheit, ob sie überhaupt ihr Studium abschließen könnten. Allein diese Frage könnte die engsten Freunde entzweien. Als Teddy mit der Fähre auf der Insel ankommt, meint er am Pier Jacy zu sehen. Alle drei waren damals in Jacy/Justine verliebt. Nachdem Jacy 1971 aus dem Ferienhaus verschwand und nicht wieder auftauchte, wurde nie wieder über sie gesprochen. Das Thema Jacy  könnte das Wochenende sprengen, egal, ob es angesprochen oder weiter verschwiegen wird. Drei Lebensbilanzen treffen nach 40 Jahren aufeinander, drei Familiengeschichten werden rückblickend erzählt. Verknüpft damit sind Entscheidungen, die damals getroffen werden mussten, ohne dass die Folgen absehbar waren, und mit denen die Männer sich spätestens jetzt abfinden müssen. Lincoln stammt aus einer an sich wohlhabenden Familie, deren Kupfermine durch den Preisverfall bankrottging. Teddy entpuppte sich als Jugendlicher überraschend als elegantes Baseball-Talent und Mickey stammte aus einer kinderreichen irisch-italienischen Arbeiterfamilie. Unerwartet wird Lincoln nun mit dem immensen Wert konfrontiert, den sein Grundstück inzwischen erlangt hat und mit den Plänen, die sein ungeliebter Nachbar mit dem Anwesen hat.

Jacys Verschwinden gibt dem Roman eine zusätzliche Krimi-Ebene und als Leser lauerte ich darauf, ob die junge Frau die Insel damals verlassen hat oder nicht. Den Ermittler von damals, Joe Coffin, hat der Fall nie losgelassen. Er hat sich in der Seniorenresidenz ein Büro eingerichtet, um weiter an dem Fall zu arbeiten. Das Auftauchen der Besucher zwingt Joe, sich mit seinem damaligen Scheitern auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, welche Welt seine Generation den Enkeln hinterlässt.

Eine Person, die vermutlich nicht jeder Leser auf dem Schirm hatte, setzt schließlich eine überraschende Wende in Gang.

Richard Russo zeigt sich hier wieder als wunderbarer Erzähler, der Familien  mitsamt ihren Rosenkriegen als verästelte Bäume darzustellen vermag und die Schwächen seiner Figuren wohlwollend entlarvt. Er erzählt nicht, wie eine Person „ist“, sondern lässt sie im Kontakt mit anderen Menschen wirken. Die Rolle des alten Coffin hat mich am stärksten berührt. Russo lästert ungehemmt über den US-amerikanischen akademischen Zirkus, über divenhafte Autoren und die unberechenbare Verlagsbranche und er wirft einen kritischen Blick auf Männerbünde. Ein wichtiges Thema ist der Aufstieg von Jugendlichen aus einfachen Verhältnissen und wie ihre Herkunft sie prägen wird. Außer Einblicken in die vom Vietnamkrieg geprägten 60er Jahre zeigt der Roman zahlreiche Wendepunkte in deren Leben und blickt damit tiefer als es ein reiner Kriminalroman tun würde.  Nachdem alle Fäden entwirrt sind, habe ich aus dem Schicksal der ehemaligen Clique gelernt, das Leben wie durch die unterschiedlichen Seiten eines Fernglases zu betrachten – je nach Richtung kann es winzig oder prachtvoll wirken.