Rezension

Dreizehn jüdisch-russische Familiengeschichten

Sieben Versuche zu lieben - Maxim Biller

Sieben Versuche zu lieben
von Maxim Biller

Bewertet mit 5 Sternen

Erst kürzlich las ich Billers Roman "Sechs Koffer", der 2018 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis stand. Er gefiel mir sehr gut, so dass es sich anbot, den vorliegenden Erzählband zu lesen. Hier sind 13 Erzählungen, die allesamt schon veröffentlicht wurden, unter dem (Unter-)Titel "Familiengeschichten" zusammengefasst. Sie beschäftigen sich mit Themen, Konstellationen und Motiven, mit denen sich auch "Sechs Koffer" auseinandersetzt. Dies geschieht sehr facettenreich, so dass es nie langweilig wird, ganz im Gegenteil, aufgrund der thematischen Dichte und der wiederkehrenden Motive gerät der Gesamtblick dadurch sehr eindrucksvoll und einprägsam.

Letztendlich sind dies zwar fiktionale Geschichten, Biller verwebt hier jedoch autobiographisch gefärbte Stoffe, immer auch im Kontext ganz konkreter politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Begebenheiten. So nimmt er oft auch Bezug zu anderen Schriftstellern oder Journalisten, wie Kafka, Ehrenburg, Zatewa, Schulz – Gerstein uva.

Im Kern geht es oft um Familiendynamiken. Die (jüdisch- russische) Familie besteht dabei zumeist aus Vater, Mutter und Sohn, wobei der Sohn häufig der Ich-Erzähler ist. Manchmal ist noch eine Schwester mit dabei, manchmal sind die Eltern getrennt, manchmal zusammen, manchmal schon verstorben.

Der Sohn versucht Familiengeheimnisse zu lüften, geht verschwommenen Erinnerungen oder auch Lügen auf den Grund. Auf der Suche nach der einen "alles erklärenden" Wahrheit, nicht zuletzt auch deshalb, um sich selbst besser zu verstehen. Familienstreitigkeiten, Grenzüberschreitungen, Verrat, Kindheitserlebnisse und natürlich die Beziehungen untereinander spielen immer wieder eine Rolle. Es gibt Krisen, es gibt Brüche, Schwierigkeiten im Beruf und in der Liebe sowie Schwierigkeiten dabei, den eigenen Weg zu finden.

Dies alles wird in einem historisch- politischen Kontext und immer auch aus einer jüdischen Perspektive betrachtet. So geht es um den Holocaust, um die Judenverfolgung in Russland/ Sowjetunion, es geht um den Prager Frühling, den Einmarsch der Russen, um eine erneute Flucht nach Deutschland. Der Verlust von Heimat, die Frage nach Herkunft, die Suche nach Wurzeln, das Ringen um Sprache und Kultur werden wiederkehrend thematsiert.

"[...D]er Wahnsinn dieses ganzen Jahrhunderts und der Wahnsinn und Unsinn meines eigenen Lebens..." korrelieren miteinander. Zudem wird deutlich, wie prägend die Erlebnisse der Vorfahren sind und so politische Schrecknisse noch Jahrzehnte später Wirkkraft haben.

Ich mag Billers Schreibstil. Er beobachtet scharf und erzählt tiefgreifend. Die Erzählungen lesen sich komisch, lustig, liebenswürdig und weniger liebenswürdig, hart und provokant, aber auch weich und gefühlvoll. Die Erzählungen wirken ganz unterschiedlich, jede an sich ist aber lesenswert. Mal mit leiser Pointe, mal mit lauter Pointe; mal sehr intensiv, mal eher ruhig. Verdichtet oder auch ausschweifend, mal eher in Andeutungen, mal sehr direkt, zwingen sie in jedem Fall zur Auseinandersetzung. Sie berühren und hallen nach.