Rezension

Du bist aus dem richtigen Holz geschnitzt, aus Heldenholz!

Emilia und der Junge aus dem Meer - Annet Schaap

Emilia und der Junge aus dem Meer
von Annet Schaap

Du bist aus dem richtigen Holz geschnitzt, aus Heldenholz!

Emilia ist das einzige Kind des Leuchtturmwärters Augustus Wassermann, auf ihren zarten Schultern lastet große Verantwortung. Seit dem Tod ihrer Mutter ist sie die einzige Person an der Seite des Vaters, der durch sein amputiertes Bein und seinem übergroßen Verlangen nach Alkohol immer mehr der Unterstützung seiner Tochter bedarf. Emilia obliegt es unter anderem, täglich bei Anbruch der Dämmerung das Leuchtturmfeuer zu entzünden. Doch eines Tages vergisst das kleine Mädchen, das sich am liebsten im Freien aufhält und am Strand nach Muscheln sucht, Zündhölzer zu besorgen. In der darauffolgenden Nacht zerschellt ein Schiff an den Felsen. Um den finanziellen Schaden wiedergutzumachen, wird Emilia zum Schwarzen Haus gebracht, wo sie im Haushalt eines sehr angesehenen Admirals arbeiten soll. Augustus muss zukünftig alleine zurechtkommen und auf den Leuchtturm aufpassen.

Emilias Angst vor dem düsteren Anwesen ihres zukünftigen Arbeitgebers scheint berechtigt. Im Dorf munkelt man von einem Monster, das dort sein Unwesen treiben soll. Furchterregende Geräusche und ein geheimnisvolles Turmzimmer, das zu Betreten Emilia strikt verboten ist, scheinen diese Gerüchte zu bestätigen. Doch Emilia möchte herausfinden, was es mit dem Turm auf sich hat und steht bald darauf tatsächlich einem unheimlichen Wesen gegenüber: einem Jungen namens Edward, der in besagtem Turmzimmer versteckt wird und nicht laufen kann. Sein wirres grünes Haar, die tiefschwarzen Augen und die spitzen Zähne sowie seine zu einem Fischschwanz verwachsenen Beine wirken fremdartig und erschreckend. Doch Emilia hat noch niemals aufgegeben und stellt sich dem aggressiven und fremdartigen Wesen. Es folgt eine vorsichtige Annäherung, die sich letztendlich für beide als Bereicherung entpuppt.

Annet Schaap hat mit dieser Geschichte einen zauberhaften Roman um jene Mischwesen aus Menschen- und Fischkörper ersonnen, von denen in den Fabeln die Rede ist. Im vorliegenden Buch erzählt sie von einem Kind aus der Beziehung zwischen einem Menschen und einer Meerjungfrau, das zwischen zwei Welten gefangen ist, und zu keiner davon wirklich gehört. Der kleine Edward sehnt sich nach der Liebe und Anerkennung seines Vaters, er bemüht sich verzweifelt, seinen Wünschen zu entsprechen. Doch sein ungewöhnliches Aussehen verurteilt ihn zu einem Leben als Außenseiter, er wird als Scheusal und Monster bezeichnet und gemieden. Bis eines Tages die kleine Tochter des Leuchtturmwächters, die liebevoll „Lämpchen“ genannt wird, auftaucht. Sie erhellt mit ihrem freundlichen Wesen und der resoluten und offenen Art nicht nur das düstere Turmzimmer, sondern auch Edwards Herz. Die Autorin gewährt dem Leser durch ihre kleine Protagonistin Einblicke in die Welt eines Kindes, das sehr früh erwachsen werden und viel zu große Verantwortung übernehmen musste. Die kursiv gedruckten gedanklichen Dialoge mit ihrer verstorbenen Mutter erlauben einen tieferen Einblick in Emilias Gefühls- und Gedankenwelt. Durch den kleinen Fischjungen Edward kann man in die Rolle eines von seinen Mitmenschen gemiedenen Außenseiters schlüpfen und dessen Emotionen und Probleme hautnah miterleben.

Der Schreibstil der Autorin hat mir sehr gut gefallen, sie berichtet in eindrucksvollen Worten von den schwierigen Umständen, unter denen ihre kleinen Protagonisten aufwachsen mussten. Auf eine ausführliche und authentische Charakterzeichnung der handelnden Personen wurde in diesem Jugendbuch großer Wert gelegt. Sowohl die Haupt-, als auch die Nebenfiguren wirken überzeugend und haben mich unverzüglich für sich eingenommen. Zwar liegt der Fokus auf Emilia und Edward, doch auch der zurückgebliebene Sohn der Haushälterin Martha mit seinem liebenswürdigen Wesen, als auch der fürsorgliche alte Mann namens Josef, der leider nur einen kurzen Gastauftritt hatte, sind mir ans Herz gewachsen.

Die Botschaften dieses Buches wurden in kindgerechter Art und Weise vermittelt, wobei für jedes Problem letztendlich auch eine Lösung gefunden wurde. „Emilia und der Junge aus dem Meer“ sorgt für abenteuerliche und spannende Unterhaltung, vermittelt Werte und vor allen Dingen Verständnis für Menschen aus schwierigen Verhältnissen sowie jenen, die auch äußerlich von den herkömmlichen Normen abweichen. Zu guter Letzt sorgt die Geschichte der verliebten Meerjungfrauen, die sich zwischen einem Leben im Wasser, oder aber einem Leben auf der Seite eines geliebten Menschen an Land entscheiden können, für eine märchenhafte und etwas melancholisch wirkende Stimmung.

Dieses Jugendbuch hat auch mir als Erwachsene ausgezeichnet gefallen und ich kann es jedem ans Herz legen, der noch einmal in die Fabelwelt der Kindheit eintauchen, Abenteuer erleben und von geheimnisvollen und betörend schönen Meerjungfrauen träumen möchte.