Rezension

Du sollst dir kein Bildnis machen

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte - Rachel Joyce

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte
von Rachel Joyce

Bewertet mit 5 Sternen

"Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte", war 1972: Da die Zeitrechnung nicht mehr ganz mit der Erdbewegung übereinstimmte, wurden zwei zusätzliche Sekunden zur Angleichung angesetzt. Der elfjährige James hat das seinem Freund Byron erklärt, und diesen versetzt die Vorstellung in heillose Angst: Wenn noch nicht einmal auf die Zeit Verlass ist - was kann dem Leben dann noch Halt geben? Und tatsächlich: In den zwei Sekunden, in denen seinem Gefühl zufolge die Uhr zurückgestellt wird, passiert ein Unfall, der nicht nur sein Leben völlig aus dem Gleis bringt.

Vierzig Jahre später: Jim, der viele Jahre in der Psychiatrie zugebracht hat, muss sich allein mit seinen Zwängen durch das Leben schlagen. Nach der Arbeit als Hilfskraft in einem Café kehrt er zurück in den verschrotteten Wohnwagen, in dem er lebt, und führt dort stundenlange Zwangshandlungen durch, bis er zur Ruhe findet. Berührungen erträgt er nicht, Gespräche kann er kaum führen. Er leidet unter der Ablehnung, die ihm von den meisten Menschen entgegenschlägt. Doch es gibt auch Hoffnung: Eine Kollegin wendet sich ihm zu und eine Beziehung zwischen den beiden tief verletzten Menschen bahnt sich an.

Beide Erzählstränge wechseln sich kapitelweise ab; wie sie zusammenhängen, deutet sich schnell an. Auch andere Vermutungen über die Charaktere und den weiteren Ablauf der Handlung bieten sich an, doch nicht alle Erwartungen erfüllen sich - Joyce fügt einige überraschende Wendungen ein. Sie zeigen immer wieder auf, dass Menschen nicht eindimensional sind, dass man niemanden in eine Schublade stecken soll. Es ist längst nicht alles so, wie es scheint.

Darauf weist auch der Originaltitel "Perfect" hin: Es ist eine scheinbar perfekte Welt, in der Byron mit seiner Familie lebt - der Vater hat einen verantwortungsvollen Beruf, die schöne Mutter führt einen idealen Haushalt, die beiden Kinder besuchen eine exklusive Schule, für deren Schüler die Karriere schon vorprogrammiert scheint. Doch dieses Idealbild ist zerbrechlich wie Glas. Einen perfekten Rettungsplan schmieden die beiden Freunde, doch die Rechnung geht nicht auf. Und fast alle Menschen im Buch haben ihre persönlichen Schwierigkeiten, sind beschädigt durchs Leben, durch psychische Krankheiten oder traumatische Erlebnisse. Rachel Joyce gelingt es, alle diese unterschiedlichen Charaktere einfühlsam zu zeichnen, und auch wenn nicht jeder von ihnen sympathisch ist, so kann man doch die Motive gut nachvollziehen. Damit wirbt Joyce um Verständnis für den Anderen, auch für den Außenseiter, ohne es jemals auszusprechen oder mit den Finger moralisch zu erheben. Das Buch ist zutiefst anrührend und menschlich - für mich ein mitreißendes Leseerlebnis.