Rezension

Düster, modern und einfach ganz anders

Alice im Wunderland - David Chauvelle

Alice im Wunderland
von David Chauvelle

Bewertet mit 4 Sternen

An dieser Stelle muss ich mich erst einmal outen: Gelesen habe ich Lewis Carrolls Klassiker "Alice im Wunderland" noch nicht, beziehungsweise nur auszugsweise im Studium. Deshalb habe ich mich sehr darauf gefreut, die Geschichte durch David Chauvels und Xavier Collettes Comicadaption zu entdecken und erst so richtig kennenzulernen. Begeistert war ich von der ersten Seite an, denn vor allem Collettes hypnotisierende Zeichnungen haben mich voll in ihren Bann gezogen. Bereits das Cover gibt einen ersten Eindruck davon, wie Collette Alice darstellt und ihre Geschichte inszeniert. Nämlich unkonventionell, modern, frisch und unheimlich besonders. Alice ist bei ihm nicht das klassisch blonde Mädchen mit dem Wallehaar, der Schleife im Haar und dem blauen Puffärmel-Kleid mit der weißen Schürze, das wir vor allem aus dem Disney-Film und von unzähligen Illustrationen kennen. Nein, Collette drückt seiner Alice seinen eigenen Stempel auf. Und das gefällt mir unwahrscheinlich gut.

 

Die Alice im Comic hat zumindest mich an eine Mangafigur erinnert. Nicht nur ist sie schwarzhaarig, trägt einen frechen Bob und hat ein sehr markantes, spitz zulaufendes Gesicht, was sie alles andere als mädchenhaft wirken lässt. Ihre Figur hat bei Collette außerdem etwas Spitzbübisches, Linkisches und vielleicht auch Verschlagenes an sich. Das macht auch die Geschichte erwachsener und reifer - vor allem in Verbindung mit Collettes Darstellung des Wunderlands. Seine Zeichnungen finde ich magisch und fantasievoll, aber nicht schrill, verspielt oder märchenhaft. Sie sind in gewisser Weise düster und faszinierend. Einerseits sind es die überwiegend dunklen und eher gedeckten Farben, die diesen Eindruck erzeugen, andererseits aber auch die Motive, die Mimik und Gestik der Figuren und die schnellen Wechsel zwischen den Szenen. Dieser Stil gefällt mir richtig gut und ich finde es beeindruckend, wie Collette es geschafft hat, dem Leser seine ganz eigene Alice zu präsentieren - losgelöst von all den Illustrationen und Trickfilmen, die das Bild von ihr seit Jahrzehnten geprägt haben. Denn Collettes Alice hat mich gefangen genommen, mich begeistert und mich hypnotisiert. Deswegen ist der Comic für mich in erster Linie ein bildgewaltiges, opulentes Feuerwerk, das mir ein ganz anderes Wunderland gezeigt hat, als ich das erwartet hätte.

 

Wie ich hingegen Chauvels Texte und Dialoge bewerten soll, war mir nach dem Lesen nicht sofort klar. Denn die Unterhaltungen und die Handlung selbst, die ja auf Carrolls Geschichte beruhen, sind dermaßen abstrus und abgefahren, dass ich zwischenzeitlich ziemlich verwirrt war. Ich weiß aber, dass genau das die Geschichte um Alice im Wunderland ausmacht und dass Lewis Carroll nicht umsonst der wohl bekannteste Vertreter der sogenannten Nonsense-Literatur ist. Demnach gehe ich davon aus, dass Chauvel sich eng an die Vorlage gehalten und trotzdem etwas Eigenes aus der Geschichte gemacht hat. Er schreibt sehr poetisch und einnehmend, was den Comic noch einmal um einiges plastischer macht. Und das Lesen ist definitiv ein unglaublich abgefahrener Trip - meistens weiß man nicht, wie einem geschieht. Mir gefällt dieses Rasante, dieses Flatterhafte und einfach komplett Verwirrende. Ich finde es großartig gemacht. Allerdings hatte ich hier und da das Gefühl, der Geschichte nicht ganz folgen zu können - was möglicherweise einfach an der Kürze des Comics liegt. Auf 72 Seiten ist eben nun mal nicht so viel Platz wie auf 300 und mehr. Ich vermute, dass Chauvel und Collette die Handlung stark eingekürzt haben, was bei einer Comicadaption natürlich absolut gerechtfertigt ist. Ich denke, dass ich der Handlung besser hätte folgen können, wenn ich die Vorlage gekannt hätte. Wie gesagt: Ich bin ohnehin begeistert von diesem Comic, aber Fans von "Alice im Wunderland" werden schlichtweg von den Socken sein.

Mein Fazit
Wenn einem "Alice im Wunderland" nur vage ein Begriff ist, so wie mir, wirkt die Comicadaption vielleicht etwas lückenhaft und zu stark eingekürzt. Nichtsdestotrotz ist sie aber großartig gelungen, denn Chauvel und Collette haben hier einen Klassiker der Weltliteratur genommen und völlig neu interpretiert. Von Alice als schwarzhaarigem, irgendwie verschlagenem Mädchen bis hin zu den Darstellungen des Wunderlands: Der Comic wirkt erwachsener, düsterer und faszinierender als alles, was ich bisher von Alice kannte. Und genau deswegen ist er für mich große Unterhaltung par excellence.