Rezension

Düster, ruhig und deprimierend - Die dunkle Seite von Reykjavik

Nacht über Reykjavík - Arnaldur Indriðason

Nacht über Reykjavík
von Arnaldur Indriðason

Bewertet mit 4 Sternen

Inhalt

„Nacht über Reykjavik“ ist die Vorgeschichte zur Reihe um den Kommissar Erlendur und erzählt von seinen ersten Jahren als Polizist, als er noch Verkehrspolizist war. Mit seinen Kollegen untersucht er Fälle von häuslicher Gewalt und Trunkenheit am Steuer, doch es sind andere Ereignisse, die ihn nicht mehr loslassen. So zum Beispiel der Tod des Obdachlosen Hannibal, der in einem Tümpel ertrunken sein soll. Doch Erlendur weiß, dass Hannibal sich verfolgt gefühlt hat. War sein Tod vielleicht doch kein Unfall?

Meinung

„Nacht über Reykjavik“ war mein erster Krimi aus dem nordeuropäischen Raum und nun weiß ich, wieso mir so oft gesagt wurde, diese Krimis seien anders und düsterer als beispielsweise amerikanische.
Tatsächlich ist die Stimmung in diesem Roman sehr bedrückend und das, obwohl er nicht sonderlich brutal oder im klassischen Sinne spannend ist. Es sind vielmehr die vielen Figuren und ihre Schicksale, die das Buch so bedrückend machen.

Erlendur ist, obwohl er die Hauptfigur ist, nicht sonderlich präsent. Er wirkt erstaunlich farb- und eigenschaftslos, was mich zwischenzeitlich irritiert hat. Seine Arbeit und seine privaten Ermittlungen in Hannibals Fall nehmen ihn völlig ein, ebenso wie seine Faszination von Vermisstenfällen, doch das ist auch schon alles, was man über ihn sagen kann. Weder wirkt er besonders geistreich, noch humorvoll oder an bestimmten Dingen besonders interessiert. Auf eher leidenschaftslose Art führt er auch eine Beziehung, doch man kann nicht wirklich erahnen, was ihm an dieser Frau liegt.

Die anderen Figuren sind dafür umso anschaulicher ausgearbeitet, insbesondere die Obdachlosengemeinde von Reykjavik, um die sich der Krimi größtenteils dreht. Die unterschiedlichen Typen von Menschen, ihre Schicksale und ihre Art damit umzugehen sind bewegend, besonders das von Hannibal, der, obwohl er schon zu Beginn des Buches tot ist, durch Rückblicke und Gespräche erstaunlich detailliert charakterisiert wird.
Dabei zeichnet die Erzählweise sich durch eine besondere Trostlosigkeit aus, denn nichts wird beschönigt. Es geht um Alkoholmissbrauch, Gewalt, sexuelle Übergriffe und einen Teufelskreis, aus dem viele Menschen trotz Hilfsangeboten nicht wieder herauskommen.

Auch die Menschen, die nicht offen ausgestoßen leben, zeigen in diesem Roman ihr wahres Gesicht, beispielsweise der Mann, den Erlendur und seine Kollegen zu Beginn des Buches festnehmen, weil er seine Frau halb totgeschlagen hat, und der kurz darauf wieder freigelassen wird. „Nacht über Reykjavik“ zeigt die dunkle Seite der Stadt auf faszinierende, wenn auch bedrückende Weise.

Gerade die Vielschichtigkeit der Figuren ist es auch, die den Roman trotz des eher gemächlichen Tempos für mich spannend machte. Erlendurs Ermittlungen haben nicht wirklich einen Spannungsbogen, sondern bestehen größtenteils daraus, dass er Menschen befragt, die den Toten kannten, und dadurch sein Leben und vor allem seine letzten Monate rekonstruiert. Nur langsam kommen dabei die Verbrechen ans Tageslicht, die man von einem Krimi erwartet, doch auch der Weg dahin, auf dem man viele Figuren kennenlernt, ist spannend, auch wenn man sich auf diesen Stil einlassen muss.
Da das Buch auch recht neutral, klar und einfach geschrieben ist, liest es sich sehr gut.

Fazit

An die teilweise deprimierend farblose Hauptfigur und die bedrückende Stimmung des Romans muss man sich erst gewöhnen, doch dann fasziniert „Nacht über Reykjavik“ durch die düstere Stimmung und die interessanten, wenn auch traurigen Figuren. Dadurch liest sich der Roman gut und schnell, auch wenn die Handlung eher gemächlich voranschreitet.