Rezension

Ehrgeiziges und amüsantes Projekt

Hausbesuche - Stephanie Quitterer

Hausbesuche
von Stephanie Quitterer

Bewertet mit 4 Sternen

Zum Inhalt

Als Stephanie Quitterer 2011 zum ersten Mal Mutter wird und ein Jahr von ihrem Job als Regieassistentin pausiert, ist ihr doch ein bisschen langweilig. Deshalb beschließt sie, ein Projekt in Angriff zu nehmen, welches sie schon länger im Auge hatte: Ab sofort will sie jeden Tag bei einem ihrer Nachbarn klingeln und sich selbst zum Kaffeekränzchen einladen.

Fortan zieht sie wie Rotkäppchen mit ihrem Korb durch ihr Berliner Wohnviertel und lernt endlich nach Jahren der Anonymität einen Teil ihrer riesigen Nachbarschaft kennen. Hierbei benötigt sie viel Geduld, Durchhaltevermögen, Toleranz - erhält aber auch wahnsinnig viel zurück.

Meine Meinung

In 200 Tagen 200 Nachbarn mit 200 Kuchen zu beglücken ist ein sportliches Ziel und klingt nach einer sehr schönen Idee. Allerdings dachte ich mir beim Lesen des Klappentextes, dass Stephanie Quitterer bestimmt eine dieser hochambitionierten Hausfrauen ist, die den ganzen Tag wunderschöne Desserts und Kuchen zaubern und furchtbar gesellig einen riesigen Freundes- und Bekanntenkreis bedienen. Solch einer Frau dürfte es ja nicht allzu schwer fallen, in ihrer bestimmt besser betuchten ländlichen Nachbarschaft zu klingeln und sich in Vorstadtvillen zum Kaffee im gepflegten Garten einzuladen.

Wie angenehm überrascht wurde ich, dass ich völlig falsch lag. Die Autorin ist nämlich ganz furchtbar schüchtern und hat regelrecht Angst vor dem Kontakt mit Fremden. Bei ihren zahlreichen ihr unbekannten, teils griesgrämigen Berliner Nachbarn zu klingeln kostet sie viel Überwindung, weshalb sie das Projekt auch erst monatelang vor sich herschiebt. Dass ihr Mann sie auch noch mit ihrem Projekt aufzieht, statt sie zu motivieren, tut natürlich sein Übriges.

Zudem wohnt sie in der anonymen Großstadt Berlin in einem "Problemviertel" mit mehreren 100 Nachbarn und klingelt sich sowohl durch Luxus-Penthousewohnungen als auch durch windschiefe Altbauten. Zu guter Letzt kommt noch erschwerend hinzu, dass Stephanie Quitterer eigentlich gar nicht so richtig backen kann. Was da den Nachbarn manchmal angeboten wird, ist nicht immer uneingeschränkt genießbar - aber immer mit viel Liebe hergestellt (oder auch mal gekauft).

Das Buch enthält zahlreiche Episoden über die verschiedenen Besuche bei ganz verschiedenen Menschen. Singles, Familien, Einheimische, Zugereiste, Arme, Reiche,... Die Autorin trifft wirklich Gott und die Welt. Manche Begegnungen sind ganz lustig, manche herzerwärmend oder auch mal ein wenig verstörend. Aber die anfängliche Angst, in unangenehme oder gar gefährliche Situationen zu kommen, stellt sich zum Glück als unbegründet heraus. Im Gegenteil: Mit jedem Besuch scheint das Viertel einen Farbtupfer mehr zu erhalten, der aus der grauen anonymen Masse auftaucht.

Jedem Kapitel ist ein Backrezept vorangestellt - ob ich davon mal etwas nachbacken werde, weiß ich nicht. Gerade am Anfang ist es eher ein "Gemansche", bei dem das Ergebnis dem Zufallsprinzip überlassen wird, aber die Autorin steigert ihre Backfähigkeiten mit der Anzahl ihrer Besuche. Die Beschreibungen ihrer oft missglückten Backaktionen sind wirklich zum Schmunzeln und machen sie gleich nochmal sympathischer.

Das Projekt wurde damals "live" in Quitterers Blog vorgestellt und hatte bald zahlreiche Fans. So wurde sie nach einiger Zeit sogar aktiv in Haushalte - nicht nur in ihrer direkten Nachbarschaft - eingeladen. Was natürlich nicht heißt, dass sie nicht trotzdem noch weiterhin versuchte, die Nachbarn zu knacken, die ihr nur widerwillig oder gar nicht die Türe öffnen wollten.

Quitterers Buch ist unterhaltsam und erfrischend. Sie schreibt sehr bildlich mit vielen Metaphern und Vergleichen, mal humorvoll, mal nachdenklich. Die verschiedenen Episoden sind mal mehr, mal weniger interessant, aber auf jeden Fall abwechslungsreich. Es ist auch schön zu sehen, wie die Autorin, die anfänglich ja noch sehr schüchtern ist und eine regelrechte Sozialphobie hat, immer mutiger wird, sich von Klischees verabschiedet und immer mehr Menschen in ihr Leben lässt. Nebenbei beschäfigt sie sich noch mit ihrer Rolle als frischgebackene Mutter, was vielleicht für Gleichgesinnte ebenfalls interessant sein dürfte.

Am Ende besteht Quitterers Nachbarschaft nicht mehr aus anonym hinter Gardinen lebenden Schatten, sondern aus einem kunterbunten Haufen liebenswerter Menschen, die auf der Straße stets für ein spontantes Pläuschchen innehalten.

Ein unterhaltsames und amüsantes Plädoyer für das Einreißen von Mauern und das Beenden des Schubladendenkens.