Rezension

Ein Antiquar gegen den Rest der Welt

Die rechtschaffenen Mörder - Ingo Schulze

Die rechtschaffenen Mörder
von Ingo Schulze

Bewertet mit 5 Sternen

Norbert Paulini und sein im ersten Stock liegendes Dresdener Antiquariat sind eine Institution, zu der Kunden aus der gesamten Republik anreisen. Paulinis Bücher existieren nur in begrenzter Anzahl und könnten in einer Mangelwirtschaft zur Valuta Forte werden. Doch Paulini, hinter seiner mechanischen Registrierkasse thronend,  weiß, was ein Kunde verdient und was gut für jeden ist. Strenggenommen sind Kunden für Paulini eher Störenfriede, die die Regal-Ordnung durcheinanderbringen. Als Antiquar mit fotografischem Gedächtnis kann er Ladendiebe sofort überführen anhand verräterischer Lücken im Regal.  Als Leser war der mutterlos aufwachsende Paulini Spätberufener, vom Vater ebenso damit infiziert wie mit dem Wandern. Paulinis Mutter hatte kurz nach dem Zeiten Weltkrieg in Sichtweite des Blauen Wunders bereits ein Antiquariat geführt . Nachdem Norbert zu seiner Berufswahl buchstäblich genötigt werden muss, geht der in der Paulinischen Wohnung gehortete Buchbestand in den Besitz des Sohnes über. Dass die Gewerbeerlaubnis der verstorbenen Mutter niemals erloschen war, muss für DDR-Verhältnisse ein unerhörter Glücksfall gewesen sein. Paulinis Leben wird von starken Frauen dominiert, mächtigen Zauberinnen, die Probleme irgendwie deichseln, an denen normale Bürger verzweifeln.

Wende und Wiedervereinigung bedeuten das Ende von Paulinis Nische in der sozialistischen Planwirtschaft. Kurz zuvor hatte er beklagt, dass ihm komplette Bibliotheken verkauft wurden von Leuten, die diese Bücher selbst nicht lasen. Paulinis Frau Vera tut sich mit dem Systemwechsel dagegen leichter – Haare müssen immer geschnitten werden. Vom weltfremden Idealisten wendet sich Paulini zum Verächter kapitalistischen Überflusses im Buchhandel. Fortan hat er über Zumutungen zu klagen, von der Vaterrolle für den 1989 geborenen Julian bis zu wirtschaftlichem Denken, das nun vorausgesetzt wird.  Ahnungslosigkeit führt ihn direkt in die Pleite und schließlich in die Rolle des wirtschaftlich Abgehängten – unverschuldet, wie er beharrt, und mit dem Anspruch, von einer Frau ernährt zu werden.  Besonders von den Frauen fühlt Paulini sich betrogen, aber auch den Wetterkapriolen und seinem Staat, der ihm fürs Leben nichts beigebracht hat.

Natürlich hätte ich mir für Paulini wie für Julian je eine eigene Nische im neuen System gewünscht (gewandert wird immer). Auf Vater und Sohn wartet jedoch, spätestens mit dem Wechsel der Erzählerstimme zu einem Herrn Schultze (mit tz) ein dickes Ende. Lebenslinien laufen aufeinander zu und vereinen sich nach einem weiteren Perspektivwechsel zu einem verblüffenden Schluss.

Als Leser sollte man Worte auf die Goldwaage legen können – ganz wie zu DDR-Zeiten. Paulinis Wortschatz scheint in einer sich ändernden Welt zunächst zu stagnieren, seine Sprache dann altertümlicher und verschachtelter zu wirken. Sprachlich habe ich Paulinis Eskapaden genossen. Eine Leser-Karriere im Idyll ostdeutschen Bildungsbürgertums, „kleine Fluchten“  und zupackende Frauenfiguren konnten mich fesseln. „Die rechtschaffenen Mörder“ zeigt sich als wortmächtiger Roman, als würde ein Lesesüchtiger aus Texten  des 19.Jahrhunderts auftauchen und im ersten Moment in deren Sprache verharren.  Wer Zweifel aushält, ob das alles Fiktion sein kann, dem empfehle ich Ingo Schulzes „Neuestes“ gern.

 

Kommentare

Schokoloko28 kommentierte am 04. März 2020 um 17:00

Ich finde das hört sich sehr interessant an!

wandagreen kommentierte am 10. März 2020 um 22:07

Ich hätte ja gerne ein Sprachbeispiel gehabt.