Rezension

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Ein beeindruckendes Buch, das einem den Menschen und die Künstlerin Charlotte Salomon nahebringt

Charlotte
von David Foenkinos

Bewertet mit 5 Sternen

Charlotte Salomon wurde 1917 in Berlin geboren, 1943 in Auschwitz-Birkenau ermordet; ihr Vater Albert Salomon war ein angesehener Chirurg. Ihre Mutter Franziska (geb. Grunwald) starb 1926 durch Suizid; 1930 heiratete der Vater wieder – die Konzertsängerin Paula Lindberg. So weit einige Daten. Charlotte Salomon gehörte, folgt man David Foenkino, wohl zu den Juden, die auf ihr Judentum dadurch hingewiesen wurden, dass sie verfolgt wurden, sie kam also nicht aus einer religiös jüdischen Familie.

Foenkinos Roman »Charlotte« liest sich weitgehend wie eine Biografie, aber er enthält natürlich fiktive Elemente, wo der Autor nicht Gewusstes ausfüllt. Seine Darstellung folgt in vielem Charlotte Salomons Mammutwerk »Leben? Oder Theater? Ein Singspiel« (zum Titelbild: https://de.wikipedia.org/wiki/Charlotte_Salomon#/media/File:Charlotte_Sa...); aber auch hier ist nicht immer klar, wo Charlottes subjektive Darstellung dem Leben entspricht oder eben Fiktion ist.

Foenkino hat eine eigentümliche Form der Darstellung gefunden: Er macht nach jedem Satz einen Absatz, manchmal nach halben Sätzen, dann folgt die neue Zeile. Er schreibt dazu (S. 73 f.):

 

»Konnte ich aus Charlottes Geschichte einen Roman machen?

Welche Form sollte das Ganze annehmen?

Ich schrieb, löschte, kapitulierte.

Ich brachte keine zwei Zeilen zu Papier.

Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken.

Es ging einfach nicht weiter.

Das war körperlich beklemmend.

Ich verspürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.

Um durchatmen zu können.

 

Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genau so schreiben musste.«

 

Für mein Verständnis bekommen die Sätze bzw. das, was in den Sätzen steht, durch Foenkinos Methode mehr Gewicht, was ich als angemessen empfinde. Passagen, in denen er über seine Spurensuche berichtet oder über seine Beschäftigung mit Charlottes Geschichte reflektiert, hätten m.E. durchaus als »normaler Text« geschrieben werden können (auch die eben zitierte Passage). Dem Buch insgesamt tut dies aber keinen Abbruch.

Zufällig herausgegriffen eine Passage über Charlottes Tante, die auch Charlotte hieß und ebenso wie später ihre Schwester Franziska, Charlotte Salomons Mutter, durch Suizid starb:

 

»Im Morgengrauen wird ihre Leiche ans Ufer getrieben.

Als sie geborgen wird, ist sie zum Teil schon ganz blau angelaufen.

Die Familie wird von der schrecklichen Nachricht aus dem Bett geholt.

Der Vater versinkt in Schweigen.

Die Schwester weint.

Die Mutter schreit ihren Schmerz heraus.« (S. 13)

 

Meines Erachtens trägt dieser Stil, das Buch ist dennoch sehr gut lesbar, es ist dem Leser/der Leserin überlassen, wie lange er bzw. sie bei einzelnen solcher Sätze verweilt oder ob er/sie gleich weiterliest.

 

Charlottes Lebensgeschichte war, salopp ausgedrückt, »starker Tobak«: Zunächst wurde sie – gegen den anfänglichen Widerstand des Vaters – nach der durch Suizid gestorbenen Tante benannt, was man m.E. durchaus als Hypothek ansehen kann; der Vater war beruflich stark eingespannt; die Mutter schwankte zwischen Hochstimmung mit Geselligkeit und depressivem Rückzug; dass sie sich selbst das Leben genommen hatte, sagte man dem Kind Charlotte nicht, sie erfuhr es erst viele Jahre später im französischen Exil. Freudvoller wurde das Zuhause durch den Einzug der zweiten Frau des Vaters, der Sängerin Paula Lindberg-Salomon.

Zu den Belastungen aus dem privaten Umfeld kam dann die Diskriminierung und Bedrohung durch den Nationalsozialismus hinzu. Foenkino beschreibt das Leben und Empfinden des Mädchens Charlotte, das Leben mit der Stiefmutter, schreibt von Charlottes erster großer Liebe, von der künstlerischen Entwicklung und der Diskriminierung, weil sie Jüdin war, von der Emigration nach Frankreich und dem Leben dort, von ihrer Heirat, einem weiteren Suizid in der Familie (erst jetzt erfuhr sie vom Suizid der Mutter) – und dem Entstehen ihres oben erwähnten Werks »Leben? Oder Theater?«, in dem sie in Bildern und Texten, teils mit zugewiesenen Melodien, ihr Leben erzählt und mit dem sie sich dem Wahnsinn ihrer Geschichte entgegenstemmt.

 

Mich hat das Buch berührt und mir –gerade mit der gewählten Methode der Darstellung – den Menschen und die Künstlerin Charlotte Salomon nahegebracht. Ihr Werk – das sie nicht lange vor ihrer Deportation und Ermordung fertigstellte und einem befreundeten Arzt mit den Worten »C’est toute ma vie«, »Das ist mein ganzes Leben« überreichte – wurde mehrfach ausgestellt und ist antiquarisch, wenn man Glück hat, noch als Buch erhältlich: Charlotte Salomon: »Leben oder Theater? Ein autobiographisches Singspiel in 769 Bildern«, Köln 1981.

Kommentare

Arietta kommentierte am 19. September 2015 um 14:32

Ich habe ebenfalls das Buch gelesen und war ebenso berührt wie du von diesem einmaligen Werk.