Rezension

Ein begnadeter Geschichtenerzähler

Ein Gentleman in Moskau - Amor Towles

Ein Gentleman in Moskau
von Amor Towles

Bewertet mit 4.5 Sternen

Graf Alexander Rostov wird im Jahr 1922 zu lebenslangem Hausarrest verurteilt. Weil seine Wohnung seit Jahren eine Suite des Moskauer Hotels Metropol ist, darf er das Hotel nicht mehr verlassen und würde zum Tod verurteilt, falls er gegen die Auflage verstößt. Der Mann aus wohlhabender adliger Familie räumt also seine 3-Zimmer-Suite, zieht in der sechsten Etage in eine Dienstbotenkammer und wird zukünftig als Kellner im Hotel arbeiten. Doch Rostov wäre vermutlich nicht Rostov, wenn er nicht nach Schleichwegen aus dieser Misere suchen würde. Zunächst findet Rostov in seiner Kammer einen geheimen Zugang zum Nachbarzimmer, das er gleich für sich sicherstellt. Im nächsten Schritt freundet Rostov sich mit der kleinen Nina Kulikowa an, die praktisch auch monatelang im Hotel interniert ist, weil sie erst im folgenden Jahr in Moskau zur Schule gehen kann. Nina liebt gelbe Kleider und interessiert sich für Prinzessinnen, ein Thema, zu dem Rostov eine nie versiegende Wissensquelle zu sein scheint. Selbst wenn Rostov bisher geglaubt haben sollte, dass er sich in einem Grandhotel bestens auskennt, belehrt Nina ihn eines Besseren. Sie erzieht Rostov quasi, führt ihn in jeden Winkel bis in die Katakomben des Hotels und verschafft ihm sogar einen Generalschlüssel. Rostov wirkt wie ein Überbleibsel des untergegangenen alten Russland. Wenn ein Graf seinen Wohnort nicht verlassen kann, muss die Weltgeschichte zu ihm kommen – und so spiegeln sich die historischen Ereignisse, die draußen stattfinden, im Leben von Rostov und seinem Triumvirat mit dem Küchenchef und dem Restaurantchef. Die Folgen der Russischen Revolution lassen sich kaum übersehen; das Hotel verliert sein qualifiziertes Personal und funktioniert mehr schlecht als recht mit schnell angelernten Kräften. Der junge Sozialismus zeigt sich zunächst darin, dass im Hotel nur noch weißer und roter Wein ausgeschenkt werden darf und alle Flaschenetiketten abgelöst werden müssen. Mit dem Thema Zensur in der Literatur nimmt Amor Towles sich in schlitzohriger Art einen weiteren Knackpunkt der jungen UdSSR vor. Rostovs Abenteuer reichen bis in die 50er Jahre hinein.

Auch wenn ich anfangs glaubte, die Handlung liefe hinaus auf das Eingesperrtsein im Hotel mit Blick auf das Bolschoi-Theater und die Mauern des Kreml, hat Amor Towles mich mit der liebevoll-ironischen Darstellung seiner kauzigen Figuren bestens unterhalten. Ein Autor, der einen begnadeten Geschichtenerzähler erfindet und so warmherzig über ihn schreibt – muss einfach ein begnadeter Erzähler sein.