Rezension

Ein biografisch erzählter Roman

Sag nicht, dass du Angst hast - Giuseppe Catozzella

Sag nicht, dass du Angst hast
von Giuseppe Catozzella

Bewertet mit 5 Sternen

Der Buchtitel Sag nicht, dass du Angst hast ist der Leitsatz des Vaters der Protagonistin Samia in diesem Roman. Dieser Roman beginnt in der Zeit als Samia und der Nachbarjunge und beste Freund Ali acht Jahre alt sind. Samia und Ali leben mit ihren Familien im selben Haus in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Ali wächst mit zwei Brüdern und seinem Vater auf. Samia wohnt mit ihrem Vater Yusuf Omar, ihrer Mutter Hooyo, ihren Schwestern Hodan, Ubah und Hamdi sowie ihren Brüdern zusammen. Hodan ist Samias Lieblingschwester, die sie bis zum Schluss ihres Lebens sogar aus der Ferne begleitet. Alis Vater und Samias Vater kommen aus zwei verschiedenen Clans, die eigentlich zerstritten sind. Da aber die Väter sich seit Kindertagen kennen, und immer befreundet waren, leben sie zusammen unter einem Dach, und helfen sich gegenseitig während des somalischen Bürgerkrieges. Samia und Ali verbringen fast jede freie Minute zusammen auf dem Hof, manchmal am Meer - obwohl es verboten ist - und im Kooni-Stadion. Samia hat ein Talent: sie kann schnell laufen und gewinnt als schnellstes Mädchen Somalias bei einem Lauf in Nord-Somalia. Ali ist anfangs auch mitgelaufen, aber irgendwann wird er ihr Trainer bis er eines Tages das Haus verlassen muss, weil seine Familie verfolgt wird. Ab dem Zeitpunkt ist Samia auf sich alleine gestellt, und ihr Traum Athletin und die schnelleste Frau Somalias zu werden, verliert sie nicht aus ihren Augen. Samia wird entdeckt - auch wenn es aus politischen  Gründen nicht immer einfach für sie ist - und nimmt an Wettkämpfen in Dschibouti, Äthiopien und sogar bei den Olympischen Spielen in China 2008 teil. Sie zwar in China nicht die Schnellste, aber ihr Traum geht weiter: sie möchte 2012 unbedingt in London an den Olympischen Spielen teilnehmen. Aber um in London teilnehmen zu können, muss sie ihr Land verlassen, obwohl sie ihrem Vater vor seinem Tod versprochen hat, in ihrem Land für die Freiheit zu kämpfen. Zeige keine Angst vor dem Krieg und den Milizen, die das Volk schikanieren. Diesen Ratschlag trägt Samia immer bei sich. Nachdem ihre Schwester Hodan das Land verlassen hat, sieht Samia keinen anderen Ausweg, als ihre Zukunft in Europa aufzubauen. Eine lange Reise von Somalia, über Äthiopien, den Sudan, Libyen im Zeitraum von gut zwölf Monaten nimmt Samia auf sich. Ob sie je in London ankommt?

Giuseppe Catozzella hat einen berührenden und chronologischen Roman geschrieben, der auf eine wahre Geschichte beruht. Anhand von Gesprächen mit Samias Schwester, die mittlerweile in Skandinavien lebt, hat der Autor diesen Roman im Rückblick geschrieben, was anhand der historischen Präsens aus der Ich-Perspektive Samias zu erkennen ist. Beeindruckend sind die engen Familienverhältnisse mit ihrer Herzlichkeit, Fürsorge und Liebe zwischen den Eltern und Kindern und zwischen den Kindern, zumindest in Samias Familie. Samias Willenskraft und Optimismus auf der einen Seite, und die Rückschläge bei der Verwirklichung ihres Traumes auf der andereren Seite wurde von Giuseppe Catozzella wunderbar beschrieben, und hinterlässt keine überzogenen Sentimentalitäten. In Alis Familie treten Konflikte auf, die u.a. mit dem Bürgerkrieg in Somalia im Zusammenhang stehen. Als Leserin erhält man zum einen Eindrücke des Alltags und der Kriegswirren in Somalia, und zum anderen beschreibt der Autor Samias Flucht von Somalia nach Europa, die ihre Schwester Hodan ebenso durchgemacht hat. Ich denke, der Autor hat ein kleines Denkmal gesetzt für viele Flüchtlinge, die es geschafft haben aus Afrika nach Europa zu kommen, um ihr Glück auf ein besseres Leben zu versuchen; aber eben auch ein Denkmal für diejenigen, die ihr Ziel nicht erreichen konnten.

Dieser Roman ist eine Mischung aus Sachlichkeit, Nüchternheit, Emotionalität und Biografie, der das seit vielen Monaten aktuelle Thema Flucht beschreibt. Die Medien berichten immer wieder, dass Flüchtlingsboote mit Überlebenden und Nicht-Überlebenden an der Grenze zu Europa ankommen. In diesem Roman bekommt man einen Eindruck, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen, freiwillig oder unfreiwillig. Da ich mich mehrere Jahre mit einem anderen Land am Horn von Afrika bechäftigt habe, und das Land selbst und ihre Bevölkerung kennenlernen konnte, kamen mir beim Lesen die eine oder andere Begebenheit vertraut vor.