Rezension

Ein bisschen enttäuschend...

Wer war Alice
von T. R. Richmond

Bewertet mit 3 Sternen

Inhalt:

"Mein Name ist Alice Salmon. Fünf von ungefähr tausend Wörtern. Ich hoffe, ich bin mehr als zweihundertmal fünf Wörter. Vielleicht noch nicht jetzt, aber hoffentlich eines Tages."

Nach einer Kneipentour mit ihren Freundinnen wird am nächsten Morgen die Leiche der 25-jährigen Journalistin Alice in einem Fluss gefunden. Fest steht, dass sie betrunken war, von der nahegelegenen Brücke gestürzt sein muss und dann ertrunken ist, aber ob es ein Unfall, Selbstmord oder Mord war, ist unklar. Sofort stürzen sich die Medien auf den Fall und auch in den sozialen Netzwerken wird heftig über den tragischen Tod und auch das Leben der jungen Frau spekuliert. Jeder glaubt, Alice genau gekannt zu haben und auch zu wissen, wie und warum sie gestorben ist. Offenbar litt Alice schon seit langem an Depressionen, hatte sich vor Kurzem von ihrem Freund getrennt und nach einem Vertrauensbruch auch den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen. War sie so verzweifelt, dass sie Selbstmord begangen hat? Sie hatte offensichtlich auch einen recht schwierigen Charakter, stellte hohe Ansprüche an die Integrität ihrer Mitmenschen und besaß die Fähigkeit andere für sich einzunehmen, aber auch vor den Kopf zu stoßen. Wurde sie ermordet, weil ihr Exfreund oder ein verschmähter Liebhaber nicht mit ihrer Zurückweisung umgehen konnten? Hatte vielleicht ein Kleinkrimineller, zu dessen Verurteilung die Enthüllungsjournalistin beigetragen hatte, ein Interesse daran, sie aus dem Weg zu räumen? Zahlreiche Drohungen zeigen zumindest, dass sie keineswegs nur Freunde hatte. Oder war sie einfach so betrunken, dass sie in den Fluss gestürzt ist und sich nicht mehr selbst retten konnte? Wer war Alice eigentlich? War sie nur Opfer oder vielleicht auch Täterin?
All diese Fragen stellt sich auch ihr ehemaliger Professor Jeremy Cooke und begibt sich auf Spurensuche. Der alternde und recht erfolglose Akademiker will herausfinden, wer Alice war und was von ihr geblieben ist; er sammelt alle Informationen über die Tote, will diese in einem Buch zusammentragen und ihr damit ein Denkmal setzen. Aber welches Interesse verfolgt er wirklich? Warum ist er so fasziniert von Alice? Welche Verbindung bestand zwischen ihm und seiner ehemaligen Studentin?

Meine persönliche Meinung:

Der ungeklärte Todesfall einer jungen Frau, bei dem nicht feststeht, ob es sich um Mord, Selbstmord oder einen Unfall handelt, ist zwar nicht unbedingt besonders spektakulär und einfallsreich, könnte aber dennoch Stoff für ein recht spannendes Buch liefern. Im Mittelpunkt von Wer war Alice stehen nicht nur die Umstände, unter denen Alice gestorben ist, sondern in erster Linie die Frage, was sie für ein Mensch war und welche Spuren, die Rückschlüsse auf ihre Person zulassen, sie hinterlassen hat.
Für die Umsetzung dieser recht spannenden Geschichte hat der Autor eine sehr ungewöhnliche Erzähltechnik gewählt. Die Romanhandlung folgt keinem roten Faden und keinem linearen Erzählstrang, sondern besteht aus einer wilden Ansammlung von unterschiedlichen, weder chronologisch noch logisch angeordneten Quellen, die Aufschluss über Alice, ihr Leben und ihren Tod geben könnten. Als Angehörige der Generation Facebook bestehen diese Quellen in erster Linie aus Blog- und Forenbeiträgen, Tweets auf Twitter, Postings auf Facebook, SMS, Emails, der Spotify-Playlist der Toten, ihrer Leseliste auf ihrem Kindle, aber auch aus Briefen, Zeitungsartikeln, Vernehmungsprotokollen und Tagebucheinträgen.

"Wenn man sich vorstellt, dass wir früher nichts weiter waren als ein paar offizielle Dokumente auf Papier, gedruckt und objektiv: Geburtsurkunde, Führerschein, Heiratsurkunde, Totenschein. Heute sind wir an tausend Orten: in Einzelteile zerlegt und doch vollständig, flüchtig und doch endgültig, digital und doch gegenständlich."

So wie ihr ehemaliger Professor Jeremy Cooke, der es als seine Aufgabe als Anthropologe ansieht, mithilfe der zusammengetragenen Informationen das Leben von Alice zu rekonstruieren, versucht auch der Leser, sich anhand dieser zahlreichen Fragmente, ein Bild von der Toten zu machen und zu ergründen, warum sie sterben musste. In unserem digitalen Zeitalter, in dem Nachrichten aber auch Gerüchte rasend schnell verbreitet werden und die Fülle an Informationen schier unermesslich ist, wird es jedoch immer schwieriger, zu erkennen, welchen Theorien und Spekulationen man Glauben schenken darf. Da im Internet jeder die Möglichkeit hat, seine Meinung kundzutun und einem breiten öffentlichen Publikum zugänglich zu machen, ist es nahezu unmöglich, wirklich zuverlässige und glaubwürdige Informationen von Gerüchten und Halbwahrheiten zu unterscheiden.
Die Geschichte von Alice wird aus unterschiedlichen Ich-Perspektiven erzählt und jeder ihrer Freunde, Kollegen und Bekannten ist sicher, Alice genau gekannt zu haben und verbreitet seine Version der Geschichte, aber man weiß nicht, welche der Wahrheit am nächsten kommt. Indem Richmond zeigt, wie der Tod von Alice Salmon in den sozialen Netzwerken verhandelt und zur Sensation stilisiert wird, gewinnt der Roman heutzutage natürlich an Aktualität und Brisanz. Die Idee, eine Geschichte aus so vielen verschiedenen Perspektiven zu erzählen und wie Teile eines Puzzles zusammenzusetzen ist auch durchaus brillant und originell, aber leider ist die Umsetzung ziemlich schwach.
Der Leser kann nur anhand der Überschriften und verschiedener Schriftarten unterscheiden, aus wessen Perspektive gerade berichtet wird. Für die gewählte Erzähltechnik wäre es meiner Meinung nach aber auch wichtig, wenn der Autor jeder Person eine eigene und individuelle Sprache verleihen würde, denn so bleiben die Charaktere leider austauschbar, flach und blass. Nicht einmal die Tagebucheinträge von Alice vermochten es, tiefere Einblicke in ihr Leben zu bekommen, obwohl dieses Medium wie kaum ein anderes Zugang zu ihrem Inneresten gewähren könnte. Natürlich ist auch sie selbst nur einer von vielen Interpreten ihrer eigenen Lebensgeschichte, aber zweifellos der wohl zuverlässigste, bleibt dem Leser aber dennoch fremd und erhält keine Konturen. Selbst wenn man am Ende die Umstände ihres Todes kennt, weiß man im Grunde immer noch nicht, wer sie war. Außerdem fiel es mir ziemlich schwer, mich in Alice hineinzuversetzen. Viele ihrer Verhaltensweisen waren für mich jedenfalls nicht nachvollziehbar. Sie wollte mir so gar nicht ans Herz wachsen, sodass es mir irgendwann wirklich egal war, wie und warum sie gestorben ist. Das war der Spannung nicht gerade zuträglich, obwohl der Erzählstil eigentlich dazu führte, dass man immer wieder auf die falsche Fährte gelockt wurde und irgendwann nahezu jeden verdächtigte, schuld an ihrem Tod zu sein.
Manche Passagen, vor allem die ausschweifenden Briefe von Cooke an seinen (verstorbenen!) Brieffreund, waren so langweilig, dass ich mich wirklich zwingen musste, wach zu bleiben und diese Seiten nicht einfach zu überblättern. Die Auflösung des Falls am Ende des Romans kam dann so abrupt und war so konstruiert, dass ich nur noch den Kopf schütteln konnte. Außerdem hätte es dem besseren Verständnis und der Logik nicht geschadet, die Vielzahl von unterschiedlichen Quellen wenigstens chronologisch anzuordnen, sodass der Leser nicht immer dazu gezwungen wäre, zurückzublättern und nach dem Datum der einzelnen Einträge zu suchen.

So muss ich leider zugeben, dass mich das Buch etwas enttäuscht hat. Das Potential, das die Geschichte sowie der außergewöhnliche und originelle Erzählstil durchaus gehabt hätten, wurde leider ziemlich verschenkt. Sehr gelungen war aber auf jeden Fall die kritische Auseinandersetzung des Autors mit modernen Medien und sozialen Netzwerken, in denen sich Gerüchte schnell verbreiten und die ein vollkommen falsches Bild von einer Person vermitteln können. Was mich auch nach der Lektüre noch beschäftigt, ist die traurige und gleichzeitig lohnenswerte Frage, was einen Menschen letztendlich wirklich ausmacht, welche Spuren jeder von uns nach seinem Tod hinterlässt und ob wir tatsächlich nur die Summe und die Konstruktion all dessen sind, was in digitaler Form von uns geblieben ist.

"Denn danach sehnen wir uns doch alle, nicht wahr? Zu spüren, dass wir wichtig sind, dass wir geliebt werden, dass wir wahrgenommen wurden. Dass wir etwas bewirkt haben. Dass man uns vermisst. Dass man sich an uns erinnert."