Rezension

Ein Blick in die Welt der Libertären - spannend und sehr gut geschrieben

Das Gedächtnis der Besiegten - Michel Ragon

Das Gedächtnis der Besiegten
von Michel Ragon

Bewertet mit 5 Sternen

»Das Gedächtnis der Besiegten« ist wohl mein Lieblingsbuch dieses Jahres. Der Erzähler des Buchs schreibt die Biografie des Libertären (Anarchisten) Fred Barthélemy auf, von der Kindheit bis zu seinem Tod. Barthélemy ist eine fiktive Gestalt, aber seine Lebensgeschichte konfrontiert ihn mit realen geschichtlichen Figuren: mit französischen Anarchisten und Kommunisten, mit den Führern der russischen Revolution wie Trotzki, Lenin, Sinowjew, Stalin, mit Schriftstellern wie Gorki, mit dem spanischen Anarchisten Durruti, dem deutschen Anarchisten Erich Mühsam, der von den Nazis ermordet wurde, mit Victor Serge und vielen anderen.

Als Übersetzer kommt der junge Barthélemy mit anderen Anarchisten nach Russland und erlebt die Anfänge und den Verlauf der russischen Revolution. Vom in die Revolution Vertrauenden wird er zu deren scharfem Kritiker; er muss erleben, wie missliebige Personen inhaftiert werden oder einfach verschwinden. Barthélemy kann fliehen; von seinen Erkenntnissen und Schriften über die Sowjetführer will man in der französischen Linken nichts wissen. Viele glauben den Geständnissen der in den Moskauer Prozessen Verurteilten.

Eine Zeitlang zieht sich Fred Barthélemy von der Politik zurück und erfährt privates Glück mit seiner Frau Claudine. Später sieht man ihn mit seinem Sohn Germinal (aus einer früheren Beziehung) in Spanien, wo der »kurze Sommer der Anarchie« (Enzensberger) zu Ende geht und dann der Faschismus Francos gewinnen wird.

Das Buch beschreibt die persönliche wie politische Entwicklung Barthélemys – der zwischendurch irrt, aber stets unbestechlich und unkorrumpierbar ist. Es erzählt von der Liebe Barthélemys zu verschiedenen Frauen, von seinem politischen Kampf als Arbeiter in Frankreich, von seiner Inhaftierung in Gurs, es charakterisiert die Menschen seiner Umgebung: von politischen Figuren (Trotzki kommt ganz schlecht weg) über Arbeiterkollegen bis zu Flora, der Frau, mit der er spannungsvoll von der Jugend bis zum Tod verbunden ist, und Claudine, die mit seinem politischen Engagement ebenso wenig anfangen kann.

Das Buch ist sehr gut geschrieben – es eröffnet eine wenig bekannte Welt: die Welt der Anarchisten, der in der Geschichte immer wieder Besiegten. Ein umfangreiches Personenverzeichnis gibt Lebensdaten der historischen Personen an und skizziert ihre Bedeutung.

 

Kommentare

wandagreen kommentierte am 21. November 2014 um 11:00

Wo treibt du eigentlich diese Bücher immer wieder auf? Und ich muss Steinbeisser lesen - o.ä.

Steve Kaminski kommentierte am 21. November 2014 um 12:01

War ein Geschenk - vieles im Programm des Verlags Edition AV lohnt sich!