Rezension

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Ein Buch als Lecture-Performance

Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen
von Dana Grigorcea

Bewertet mit 3 Sternen

Viele Fäden angesponnen und nicht fertig gewirkt.

„Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen“ von Dana Grigorcea ist ein Werk, das sich nicht in Schubladen stecken lässt und sich einer Rezension nahezu entzieht, zumindest einer eindeutig wertenden. Und vielleicht führt das direkt zum Kern der Sache: Der Kunst.

Doch fangen wir außen an: Beim Einband. Wirklich wunderschön kommt der Schutzumschlag daher, haptisch sehr beglückendes, festes Papier und ein fragmentarisch wolkenhaftes Design, das gleichermaßen an Puzzle wie auch Memory erinnert. Das darunterliegende Hardcover verkehrt die Farben ins Gegenteil – und auch das passt so gut zum Inhalt des Romans, der eigentlich fast eher eine Lecture Performance ist.

Zwischen den Buchdeckeln verknüpft Dana Grigorcea auf der Oberfläche zwei Jahrhunderte und zwei Geschichten, bei genauerer Betrachtung sind es doch drei, die sowohl im weiten als auch im engen Sinne die Frage stellen: Was ist Kunst? Und wer darf von sich behaupten, sie zu schaffen? Welche Eigenschaften muss ein Werk haben, dass es sich Kunst, eine Person, dass sie sich Künstler:in nennen darf? Um dieser Frage auf die Spur zu gehen, wechselt das Erzählte zunächst rasant zwischen den bildenden Künstler Constantin Avis, der in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Bronzeskulptur nach New York reicht, um dort seinen künstlerischen Durchbruch zu erreichen einerseits sowie andererseits der Autorin Dora, die mit ihrem Sohn Loris und einem Kindermädchen ein Schreibstipendium an der ligurischen Küste antritt, um dort einen Roman über eben diesen Constantin Avis endlich zu Papier zu bringen. Die Perspektiven wechseln in sehr kurzen Kapiteln rasant und es braucht seine Zeit, die Handlungsbögen zu durchdringen. Grigorcea fängt sehr gut die Atmosphäre der 20er Jahre und die Dekadenz im Künstlertum ein und auch in der zweiten Geschichte an der ligurischen Küste ist das Flair sehr gegenwärtig. Beide Hauptfiguren tragen die Gemeinsamkeit, dass das Leben sie von ihrer Kunst ablenkt oder dieser im Weg steht und verhalten sich sehr hermetisch und um sich selbst kreisend, was sie nicht unbedingt zugänglich macht. Auch nicht für die Liebe.

Dem Roman liegt ein wirklich brillantes Konstruktionsprinzip zugrunde, indem die Lesenden immer einen Teil dessen schon lesen, was parallel Dora erst noch erfindet. Dieses Spiegel-Prinzip, das auch in vielen kleine Motiven auftaucht, gipfelt darin, dass an einer Stelle die Schauspielerin Alba Fantoni im Film Alba Fantoni selbst vor einem Publikum spielt, betrachtet von einem Publikum im Kinosaal, wiederum betrachtet von der diese Geschichte ja schreibenden Dora, wiederum betrachtet von uns Lesenden. Und am Ende des Buches stellen wir fest, dass Fantoni gar nicht ist, was sie scheint. Das ist schon genial ausgedacht. Was ist echt, was ist Imitation, was erzeugt in der Spanne zwischen echt und imitiert etwas Drittes, Neues?

Während die Handlungen der Kunstschaffenden voranschreiten, wird in diese Geschichten hinein noch eine dritte Geschichte erzählt, die Geschichte der Laura Cavallaro – die nicht nur als Kontrast, sondern vor allem dazu dient zu zeigen, wie sehr Dora in der Möglichkeit lebt statt im Tun, wie eigentlich alle Menschen ein Leben lang auf der Suche sind und nicht zur Ruhe kommen, nie wirklich, wie das Suchen belebender ist als das Finden, zum anderen wird dadurch deutlich, wie sehr viele Künstler:innen immer in der Theorie leben, in der Idee. Es sind viele Fragen, denen Grigorcea nachgeht, auch der nach der Unterscheidung von Kunst und Handwerk. Ihr eigenes Handwerk versteht sie dabei sehr gut, ihre schriftstellerische Qualität kann es an vielen Stellen mit der eines Thomas Mann aufnehmen, ich musste tatsächlich oft an seinen Zauberberg denken.

Viel Lob also für Idee, Konstruktion und Sprache, da könnten noch viele Details genannt werden. Und dennoch lässt das Buch und auch sein Ende mich ratlos zurück. Es werden viele Fäden angesponnen und nicht fertig gewirkt, der Blick auf die Figuren bleibt immer distanziert und nüchtern, die Beziehungen wirken fast durchweg ungesund, die Künstler:innen werden als wahnhaft klischiert, alles bleibt offen, nichts verbindet sich wirklich, auch nicht mit mir. Das alles ist sicher kein Zufall, sondern genauso gewollt, zu klug wird hier gearbeitet. Aber genau diese Klugheit lässt das Buch für mich im Abstrakten bleiben, trotz konkreter Geschichten und hat in mir nichts ausgelöst, die zugrundeliegenden Stories bleiben an der Oberfläche, der Blick auf die Kunst einseitig. Und so müsste ich für die schriftstellerische Qualität fünf Sterne geben, für das Gefallen einen. Weshalb ich mich bei drei einpendeln werde und nur vorschlagen kann, sich selbst ein Bild zu machen, in welche Richtung das eigene Pendel ausschlägt.

Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar!