Rezension

Ein Buch, das mich persönlich sehr berührt hat

Wir sehen uns unter den Linden - Charlotte Roth

Wir sehen uns unter den Linden
von Charlotte Roth

Bewertet mit 5 Sternen

Berlin. Es ist die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Stadt ist geteilt. Die angehende junge Lehrerin Susanne lebt im Ostteil der Stadt und ist vom Sozialismus so überzeugt wie ihr Vater, der auch Lehrer war. Ihr Vater Volker, der gegen das Nazi-Regime gekämpft hat und kurz vor Kriegsende von ihnen vor den Augen des jungen Mädchens erschossen wurde. Ein Ereignis, das Sanne ihr Leben lang nicht vergessen wird. Geprägt von den sozialistischen Ideen ihres Vaters, versucht Sanne, den jungen Staat mit ihren zur Verfügung stehenden Mitteln mit aufzubauen.

Dann begegnet ihr Kelmi, der lustige und lebensfrohe Koch aus dem Westen. Sie rennt förmlich in ihn hinein. Sollte sich das Schicksal wiederholen? Ihre Mutter, einst ein gefeierter Revue-Star, brachte vor vielen, vielen Jahren den Lehrer Volker zum Stolpern. Sanne und Kelmi verlieben sich ineinander. Regelmäßig treffen sie sich sonntags "Unter den Linden". Kelmi wartet immer auf sie. Er bringt sogar so verrückte Dinge zustande, wie eine Zwiebelsuppe auf der Straße zu kochen, aber hat diese Liebe überhaupt eine Zukunft?

Die politische Situation verändert, verhärtet sich. Die ersten sprechen bereits vom "Kalten Krieg". Immer mehr Menschen flüchten aus der jungen DDR rüber in den Westen. Soll tatsächlich eine Mauer gebaut werden? Soll das Volk in der DDR eingesperrt werden? Hatte Kelmi eben noch vor, ein Restaurant in Ost-Berlin zu eröffnen, bekommt er es jetzt, wie so viele andere, mit der Angst zu tun. Es kommt zum Streit mit Sanne - wieder einmal. Und dann kommt der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus...

"Wir sehen uns unter den Linden" - ein überwältigender Roman! Eine mitreißende Geschichte, die mich von vorne bis hinten gefesselt und begeistert hat. Mit großer erzählerischer Kraft und Einfühlungsvermögen schafft Charlotte Roth es wieder einmal, dem Leser ein Stück jüngster deutsch-deutscher Geschichte nahe zu bringen. Sie entführt uns abwechselnd in die 40er-, 50er- und 60er Jahre. Der Leser bekommt so hautnah die Entwicklung der politischen Geschehnisse, die unterschiedliche Entwicklung der Menschen im Osten, wie im Westen mit. Der Krieg, die in Trümmern liegende Stadt Berlin, aber auch die Teilung der Stadt, des Landes, den Wiederaufbau. 

Beim Lesen wurde die Geschichte für mich lebendig, es war wie ein Film, den ich mir angesehen habe.

Es geht aber nicht nur um Sanne und Kelmi. Da ist auch Ilo, der einst gefeierte Revue-Star, die ihre großartige Karriere für ihre Familie aufgegeben hat und die nach der Ermordung ihres Mannes in eine tiefe Depression gefallen ist. Sido, ihre beste Freundin, die Jüdin ist und Eugen, der einstige Manager Ilos. Was hat der Krieg, was hat das Nazi-Regime aus diesen einst so lebensfrohen Menschen gemacht, denen die ganze Welt zu Füßen lag?

"Wir sehen uns unter den Linden" - ist auf eine ganz bestimmte Art und Weise in Teilen aber auch die Geschichte meiner eigenen Familie, meines Vaters, der 1955 in den Westen geflüchtet ist, der im Notaufnahmelager Marienfelde eine erste Zuflucht fand. Auch meine Familie war lange Zeit geteilt. Irgendwann dann erste Besuche "drüben".  Hier beginnt meine Geschichte. Ich war dabei. Ich kann mich noch erinnern an die Fahrten, die Grenzüberquerungen, an die Instruktionen meiner Eltern, wie ich mich zu verhalten habe, wenn ein Grenzer sich dem Auto nähert. Die DDR, die mir oft so grau vorgekommen war. Über bestimmte Dinge durfte nur im Geheimen gesprochen werden. Telefone wurden abgehört, Briefe wurden gelesen.

"Wir sehen uns unter den Linden" - ein Buch, das mich ganz persönlich sehr berührt hat, das auch Tage nach dem Lesen der letzten Seite immer noch Erinnerungen weckt, Bilder hervorruft. Eine packende Geschichte, eine ergreifende Geschichte und eine Geschichte mit einem unerwarteten Ende! Unbedingt lesen!