Rezension

Ein Buch für alle, die nicht nur glauben, was sie sehen

Die Schwerelosen - Valeria Luiselli

Die Schwerelosen
von Valeria Luiselli

Zeit, das erfährt man später in diesem kleinen Buch, Zeit ist ein relativer Begriff.

Die Hauptfigur in Valeria Luisellis Roman ist eine junge Schriftstellerin. In der Jetzt-Zeit, also am Anfang des Romans, lebt sie mit Mann und ihren beiden Kindern zusammen. Die junge Frau verlässt das Haus nie, aber in Gedanken ist sie häufig abwesend. Dann kehrt sie zurück zu ihrer Zeit als Lektorin in New York, zu ihrem ungebundenen Junggesellinnenleben und zu ihrer ersten Begegnung mit Gilbert Owen.

Anfangs ist Gilbert Owen nur ein toter mexikanischer Schriftsteller ohne späten Ruhm, den die junge Lektorin bei ihren Recherchen entdeckt. Sie möchte unbedingt, dass der Verlag ein Buch von ihm herausbringt, fälscht Manuskripte und verleitet ihren Verleger zu einer Veröffentlichung, der Grund für ihren späteren Rauswurf. Etwa zeitgleich findet sie auf einer Dachterrasse einen vertrockneten Orangenbaum, den sie mit nach Hause nimmt. Sie war die ganze Nacht auf dieser Dachterrasse ausgesperrt. Dem Tod nahe macht sie eine  spirituelle Erfahrung.

Von da an lässt der tote Dichter sie nicht mehr los. Nicht mehr nur bloße Vorstellung, wird er Teil ihrer Wirklichkeit. Sie glaubt, ihm in New York zu begegnen oder ihn in der Subway in einem entgegenfahrenden Wagon zu sehen. Owen bekommt konsequenterweise auch im Roman immer mehr Platz. Er wird zum zweiten Ich-Erzähler.

Spannend ist der Perspektivwechsel. Die Vorstellung, von Gespenstern begleitet zu werden, gehörte bereits zum Alltag der kleinen Familie. Doch gegen Ende des Buches haben die Realitäten sich so weit verschoben, dass Owen meint, er werde von der jungen Frau im roten Mantel verfolgt und hätte sie in der U-Bahn gesehen. Er beginnt nun damit, einen Roman über sie zu schreiben. “Vorher” und “Nachher” sind ineinander geschoben und bestehen als Parallelwelten, verlinkt durch ähnliche Erfahrungen oder Gegenstände, die den Besitzer wechseln – wie das Orangenbäumchen.

Zu kopflastig? Ja, ziemlich kopflastig, mit zahlreichen literarischen Anspielungen und Theorien. Aber das fiel gar nicht so ins Gewicht, denn Valerie Luiselli schreibt “schwerelos”, sie plaudert und es macht Freude, ihren Gedanken zu folgen. Zum Beispiel ihrer Theorie über die Tode:

 ”Selbstverständlich gibt es viele Tode im Laufe eines Lebens. Die meisten Leute merken nichts davon. Sie glauben, einmal zu sterben, und das ist es dann. Aber man muss nur ein wenig achtgeben, dann stellt man fest, dass man immer mal wieder stirbt.” S.81

Und an diesen Bruchstellen überlappen sich dann verschiedene Leben. Die Figuren sind verschieden, aber sie sprechen über Erfahrungen, die universell sind. Dazu gehört wohl auch, dass man mitunter meint, Gespenster zu sehen.

Valeria Luiselli wurde 1983 in Mexico City geboren. “Die Schwerelosen”, erschienen im Antje Kunstmann Verlag, ist ihr erster Roman.