Rezension

Ein Buch von beklemmender Aktualität.

Mein Vaterland! - Christian E. Weißgerber

Mein Vaterland!
von Christian E. Weißgerber

Bewertet mit 5 Sternen

Früher war Christian Weißgerber einer, der überzeugt war, dass es während des Zweiten Weltkriegs keine Gaskammern gegeben hätte. Es gab Phasen in seinem Leben, da hat der heute studierte Kulturwissenschaftler den Holocaust geleugnet. Heute ist das Hakenkreuz Tattoo verschwunden und auch sein Leben ist ein komplett anderes. Niemand muss Nazi sein, egal, was er oder sie erlebt haben. Es ist stets eine eigene Entscheidung. Was muss geschehen, damit aus einem gewöhnlichen jungen Mann ein Neonazi wird? Also ein Mensch, der extreme Anschauungen vertritt, Kompromisse verabscheut, sich auserwählt glaubt und meint eine Mission zu haben? Der Autor Christian E. Weißgerber zeigt, wie die Abscheu vor dem politischen Alltagsgeschehen, das Misstrauen gegenüber dem gesellschaftlichen Establishment sowie die „gewöhnlichen“ Alltagsrassismen eine Weltsicht hervorbringen, die am Ende nur noch eine Sichtweise erlaubt: Entweder die oder wir! Er stilisiert sich nicht als Opfer widriger Lebensumstände und wurde auch nicht von raffinierten Funktionären verführt: „Ich hatte unzählige andere Möglichkeiten, aber ich wollte Nazi werden.“ Der Anstoß, um dieses Buch zu schreiben, waren verschiedene Dinge. Zum einen hatte der Autor das Gefühl, dass er an einem Punkt angekommen war, an dem ein Buch hilfreich sein kann, um andere Menschen über Radikalisierung in rassistische und nationalistische Strukturen aufzuklären. Auf der anderen Seite wollte er aufzeigen, dass Stereotype, die viele Leute von Rechtsextremen oder Nationalpopulisten haben, nicht immer zutreffen. Er wollte zudem vor Augen führen, wie viel Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus im mitteleuropäischen Gedankengut enthalten sind. Denn der Versuch, dieses Gedankengut immer an die Ränder der Gesellschaft zu drängen, ist ja ein bisschen scheinheilig.
Es handelt sich um ein Aussteiger-Buch, das es bis dato in dieser Form noch nicht gibt, ein sinnvolles Aussteiger-Buch, das sich nicht in Rechtfertigungsdiskursen verliert oder extrem oberflächlich bleibt. Das Buch hat entscheidende Eigenheiten, die in bisherigen einschlägigen Publikationen nicht vorgenommen wurden. In einer Mischung aus autobiografischen Episoden und politisch-psychologischer Analyse liefert Weißgerber eine einzigartige Studie der Selbstradikalisierung, insbesondere in den ostdeutschen Ländern der Nachwendezeit bis hin zu den Wutbürgern in Ost und West. Beeindruckende biographische Lektüre die die Frage aufwirft, "Was ist los mit unserer Gesellschaft? Warum werden Werte über Bord geworfen? " Weißgerber appelliert an die Mündigkeit eines jeden Einzelnen und reist mit uns durch die Geschichte der Aufklärung. In dem persönlichen Essay gibt er Einblick in seinen früheren Alltag und hält Deutschland den Spiegel vor: einem Land, das sich als vorbildliche Demokratie begreift und gleichzeitig einen Teil seiner Mitglieder als "anders" markiert, kaum schützt oder wertschätzt. Ein wichtiges Buch, gerade in der heutigen Zeit von Relevanz! Äußerst lesenswert, vielleicht das wichtigste Buch des Frühjahrs!