Rezension

Ein Buch wie eine Doppelstunde

Die Schule am Meer - Sandra Lüpkes

Die Schule am Meer
von Sandra Lüpkes

"Die Schule am Meer" auf der Nordseeinsel Juist ist ein beinahe vergessenes reformpädagogisches Experiment. Nach über 100 Jahren versucht Autorin Sandra Lüpkes dies zu ändern. Mit dem Versuch eines großen Gesellschaftsromans.

1925 gründen vier idealistische und engagierte Lehrerehepaare auf der Nordseeinsel Juist „Die Schule am Meer“. Den Kopf voller Reformideen wollen sie nicht nur ein Internat ohne Angst, sondern gleich eine neue Welt erschaffen. Dazu richten sich die Protagonisten (darunter auch Linke, Kommunisten und Juden) in einem heruntergekommenen Anwesen ein. Der Clou dabei: All dies hat sich wirklich zugetragen. Die Schule existierte bis 1934 und war überregional bekannt.

 

Sandra Lüpkes, selbst auf Juist aufgewachsen, recherchierte die heute weitgehend vergessene Geschichte und setzte aus vielen Mosaiksteinchen ein großes Bild zusammen. Sie verwob Fiktion und Wirklichkeit zu einem Roman, nein angeblich zu einem groß angelegten Gesellschaftsroman.

 

Doch der Reihe nach. Beginnen wir dem, was funktioniert: Lüpkes Stil zum Beispiel. Der ist angenehm unaufdringlich. Die knapp 600 Seiten lesen sich flüssig, locker und leicht. Das ganze Buch ist trotz vieler Personen und obwohl ohne konsequent roten Handlungsfaden, ein munter dahin­plätscherndes Lesevergnügen.  Doch die Mängel sind unübersehbar: Man erfährt nur das, was die Autorin fleißig recherchieren und meist angerüscht verziert erzählen konnte. Details oder gar differenzierte Blicke auf das reformpädagogische Konzept fehlen leider ebenso wie tiefere Einblicke in den Schulunterricht oder in die finanziellen Klimmzüge, der stets von der Pleite bedrohten Einrichtung.

 

Stattdessen gibt’s kitschige Amouren oder Schablonen-Norddeutsche, die mit Fremden und noch dazu Intellektuellen nichts anfangen können. Noch schlimmer aber sind die mit zunehmender Jahreszahl auftretenden Klischee-Nazis. Alles doch recht unreflektiert und von beinahe infantilem Tiefgang. Nichts davon ist wirklich überraschend, neu oder gar erkenntnisreich. Inselabenteuer hat man schon viel besser gelesen, ebenso Geschichten von Schülerstreichen, von Internatsabenteuern, von harten Wintern wie 1929 oder von kleinkarierten Spießern, die als Nazis Karriere machen und ihre Mitmenschen terrorisieren.

 

Auch das Verknüpfen von realen und erdichteten Personen wirkt zwischendurch bemüht und künstlich, stellenweise sogar peinlich, etwa wenn zwei Schüler kurz vor dem Abi (500 Kilometer) nach Berlin radeln (!) und einer der Beiden (offenbar bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933) ausgerechnet auf Erich Kästner trifft.

 

Der Vorteil von Lüpkes Buch ist ihre Nähe zu Juist und ihre Nähe zum Thema. Das Bemühen, den Protagonisten Denkmale zu setzen ist unübersehbar – und leider, leider, leider auch der größte Mangel dieses Werkes, weil dadurch zahlreiche Chancen ungenutzt bleiben. Stattdessen fließt das Geschehen zunehmend müde und resigniert  dem absehbaren Titanic-Ende zu: der Schulschließung 1934.

 

Ist „Die Stadt am Meer“ denn nun ein großer Gesellschaftsroman? Natürlich nicht! Das Buch ist eher wie die Doppelstunde einer bemühten Lehrkraft: abwechslungsreich, mitunter sogar spannend, aber insgesamt zu lang, weil gefangen in Routine und Langeweile, sodass man froh ist, wenn die Glocke endlich zum Schulschluss klingelt.