Rezension

Ein deutsches Schicksal

Über alle Grenzen
von Hera Lind

Bewertet mit 3.5 Sternen

Es ist ein verlockendes Angebot für den Tropenmediziner und Tierarzt Werner Alexander. Ende der 50iger Jahre wird ein Direktor für den Erfurter Zoo gesucht. Die ganze Familie übersiedelt von Bayern in den Osten. Da konnte noch niemand ahnen, dass nur wenige Jahre später diese Entscheidung in eine Katastrophe führte. Inzwischen wurde die Mauer gebaut und die Familie Alexander fühlt sich im Osten gefangen, die Direktorenstelle wurde längst mit einem linientreuen Parteigänger ersetzt. Später führt dann noch die versuchte Republikflucht des Sohnes Bruno zu ständigen Repressalien und Bruno ins Gefängnis.

Die zweite Zeitebene des Romans spielt in der Gegenwart. Lotte hat nach vielen Jahren ihren verschollenen Bruno ausfindig gemacht. Nach den vielen Gefängnisjahren hat er keinen Platz in der Gesellschaft mehr gefunden, seine Familie zerbrach an seinem Alkoholmissbrauch und seinen Gewaltausbrüchen. Er vegetiert inzwischen krank und verwirrt in einem Pflegeheim vor sich hin. Lotte setzt alles daran, dem Bruder die letzte Lebenszeit besser zu machen und auch seine Kinder zu finden um sie zur Aussöhnung zu bewegen.

Es sind also gleich zwei große Themenkreise, die Hera Lind in ihrem Buch zusammenfasst. Wobei wir im Nachwort von Protagonistinnen hören, auf deren Erlebnissen und Aufzeichnungen die Rahmenhandlung des Buches beruht. Lebendige, erlebte Geschichte – das hat mich neugierig gemacht und interessiert.

Sehr anschaulich finde ich das eingeschränkte Leben in der DDR geschildert. Die Bespitzlungen und Eintragungen der Stasi sind für die Familie einschneidend, die Kinder bekommen keine Zeugnisse mehr, eine weiterführende Schule ist unmöglich, all das weiß man aus vielen Berichten. Fast unfreiwillig komisch präsentiert sich die Stasi, wenn später in den Überwachungsprotokollen eine nasebohrenden Tochter aufgeführt wird, die von der Schwester ein Taschentuch gereicht bekommt. Schikane und genaues deutsches Beamtentum ergeben zuweilen eine absurde Mischung.
Allerdings hatte ich das Gefühl, dass Hera Lind sich nicht ganz exakt in den Sprachgebrauch der damaligen DDR einfühlen konnte. Zu viele Anglizismen und aktuellere Redewendungen sind ihr da in den Text gerutscht.

Der zweite Themenkreis – das Wiederfinden des Bruders in einer Pflegeeinrichtung – zeigt das ganze Elend des Pflegenotstandes. Bruno, der kaum noch artikulieren kann und Sozialhilfeempfänger ist, wird eigentlich nur noch verwahrt. Lotte kämpft ganz entschieden gegen diese Missstände an und führt geradezu einen Kreuzzug gegen Heimleitung, überarbeitete Pfleger und Gleichgültigkeit.

Ich kannte Hera Lind bisher nur von ihrem Erstlingswerk „Ein Mann für jede Tonart“ und auch ihren weiteren beruflichen Werdegang hatte ich nicht verfolgt, so dass dieses Buch tatsächlich eine positive Überraschung für mich war. Ich fand es emotional erzählt und auch durch die authentischen Bezüge besonders interessant.