Rezension

Ein Dorf ohne Eltern

Wir verlassenen Kinder - Lucia Leidenfrost

Wir verlassenen Kinder
von Lucia Leidenfrost

Bewertet mit 5 Sternen

Meine Meinung
Die Autorin wirft die Leser*innen direkt ins Dorf der verlassenen Kinder. Schon sind wir mitten drin im Verlassen werden. Die vorletzten Eltern verabschieden sich von ihren Kindern.

    “Jetzt steigen sie ins Auto, jetzt startet der Motor, jetzt fahren sie los. Mutter winkt aus dem offenen Fenster. Der Schotter spritzt, weil es Vater immer so eilig hat. Wir winken ihnen nach. Jetzt verschwinden die Eltern um die nächste Kurve. Wir stehen trotzdem da und winken noch immer. Jetzt hören wir das Auto schon nicht mehr. [ … ] Wir stehen allein da, sehen noch immer in die Kurve und können es nicht glauben: Unsere Eltern haben nicht einmal versucht, uns zu versprechen, dass sie uns mitnehmen werden.” (Buch S. 5f)

Und nun? Ein Dorf ohne Eltern. Die übrig gebliebenen Großeltern kümmern sich um die gesamte Kinderschar. Der Bürgermeister, das letzte Elternteil der Dorfgemeinschaft, ist der Vermittler zwischen Kindern und Eltern, die jetzt in der Stadt wohnen und arbeiten. Er hat das Telefon, über das die Familien hin und wieder zusammenkommen.

Aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt Lucia Leidenfrost über das Schicksal der Kinder. Als Leser*in hat man somit einen Wissensvorsprung, der einem nach und nach das große Ganze präsentiert. Mila, eine der drei Töchter des Bürgermeisters, hat sich von der Gruppe der anderen Kinder abgesondert. Sie wehrt sich gegen eine homogene Gruppe aus Kindern, in der es keine echte Individualität mehr gibt. Milas Teil ist aus Sicht einer Erzählerstimme geschrieben. Alle übrigen Blickwinkel sind in der Ich-Form. Mila betrachtet man als Leser*in somit von außen und es erscheint, als würden alle anderen Charaktere versuchen die Leser*innen auf emotionaler Ebene für sich zu gewinnen.

Der nüchterne Schreibstil von Lucia Leidenfrost bringt den Leser*innen zum einen eine gewisse Distanz zu dieser Ungerheuerlichkeit der Geschehnisse im Dorf und zum anderen gibt sie dadurch gleichzeitig ihrer Geschichte eine irrationale Normalität.

Der Lehrer ist auch schon gegangen und die anfängliche Freude darüber schwenkt um in Langeweile, die die Kinder zu Taten treibt, deren Konsequenzen sie nicht vorhersehen können, die jedoch sehr schlimm sind.

Es gibt keine Anhaltspunkte, wo das Dorf verortet ist und zu welcher Zeit die Geschichte spielen könnte. Währen des Lesens fühlte es sich für mich an, als wäre ich in Russland. Dieses Gefühl vermitteln einem auch die Namen Mila und Juri als auch die sehr auf Landwirtschaft orientierte Dorfgemeinschaft und das Alltagsleben, das es früher einmal gab.

Doch wo sind die Eltern? In welcher Stadt sind die Eltern? Warum schreiben sie nur Briefe und schicken Pakete und kommen nie zu Besuch? Gibt es wirklich einen Konflikt oder Krieg, der öfters erwähnt wird?

Diese und auch andere Fragen werfen eine Spannung auf, die die Leser*innen bis zum Ende antreibt.

Die Autorin hat ein schreckliches aber auch faszinierendes Szenario entworfen. In diesem Rahmen erzählt sie die Geschichte sehr realistisch. Das Handeln der Kinder ist nachvollziehbar, das der Erwachsenen weniger.

Nicht alle Fragen werden beantwortet. Das Ende ist offen und lässt ein Nachdenken und Diskutieren zu.

 
Fazit
Eine Geschichte, die mich getroffen hat und aus der ich für mich einen Apell an Eltern herauslese, sich unbedingt um ihre Kinder zu kümmern, sie kindgerecht und unbeschwert aufwachsen zu lassen, sie mit Liebe zu überschütten und sie zu verwöhnen und immer für sie da zu sein. Auf Reichtümer kann verzichtet werden, auf die Liebe und die Bindung zu den Kindern nicht.

Auch wenn ich noch Antworten auf meine Fragen suche, bin ich sehr begeistert von der Idee und dem Schreibstil der Autorin und spreche unbedingt eine Leseempfehlung aus! Eine Geschichte, von der ich sehr, sehr gerne noch viele Seiten mehr hätte lesen wollen!