Rezension

Ein Dorf verschwindet, die Welt geiht ünner, die Erinnerung bleibt

Mittagsstunde - Dörte Hansen

Mittagsstunde
von Dörte Hansen

Bewertet mit 4 Sternen

"Mittagsstunde" - Für mich war es das erste Buch von Dörte Hansen. Ihren Vorgängerroman "Altes Land" habe ich zwar zwischenzeitlich gekauft, aber bisher noch nicht gelesen. Jedenfalls  faszinierte "Mittagsstunde" mich beinahe auf den ersten Blick. Mit dem Interview in der Sendung "druckfrisch" hatte Hansen mich bereits in den Bann gezogen und so führte dann auch kein Weg an ihrem neuen Roman "Mittagsstunde" vorbei. Meine erste Euphorie verflog leider recht schnell, aber dazu später mehr.

Ingwer Feddersens Heimatdorf Brinkebüll ist ein kleines nordfriesisches Dorf, recht überschaubar, ruhig, mit viel Landwirtschaft und Ställen, Jeder kennt jeden, so wie man sich klassisch auch ein Dorf vorstellt. Ingwer ist das Kind von Marret Unnergang, die mehr oder weniger das gesamte Dorf mit ihren Holzlatschen und Weltuntergangstheorien auf Trab hält. Ingwer wächst hier auf und geht hier zur Schule bis er für sein Studium allen den Rücken kehrt und nach Kiel verschwindet. Jahre später kehrt er zurück. Ingwer ist nun 47, Archäologe und Hochschullehrer. Er gönnt sich eine Pause und will sich um seine dement gewordene Großmutter Ella und seinen recht gebrechlichen Großvater Sönke, der nach wie vor seine Gastwirtschaft führt, kümmern. Scheinbar ist die Zeit stehen geblieben, obwohl sich alles verändert hat. Die alten Einrichtungen wie die Schule, Dora Koopmanns Hökerladen, der Bäcker, die Hecken, die Störche, die Ställe, alles weg. Nach und nach verschwunden mit der Flurbereinigung, der neuen Straße, dem Fortschritt. Ein Dorf auf dem Abstellgleis, das nun dazu dient Städtern einen Raum der Erholung und des Neuanfangs zu geben. Zwischen Erinnerungen und Realität. "Mittagsstunde" - eine Geschichte über den Verlust und Abschied von der einstigen bäuerlichen Welt.

"Er fühlte sich hier manchmal wie im Kindergarten, alles nassgekleckert und zwei Bockige am Küchentisch, die jeden Morgen irgendwas zu meckern hatten, Kaffee viel zu stark, zu dünn, zu heiß, zu kalt, Honig viel zu fest, zu flüssig."

Dörte Hansen hat mit "Mittagsstunde" einen Roman über das Dorfleben mit so wundervoll verschrobenen Charakteren erschaffen, wie es keinen zweiten gibt. Zunächst erinnerte er mich an Astrid Lindgrens Geschichten aus Lönneberga, mit Krösa-Maja, die stets in allem das Schlimmste sah, denn genau so eine Person ist Marrett. Auch die Familie Feddersen steht hier in mehreren Zeitspannen im Vordergrund. Es ist eine Geschichte mit sehr viel Persönlichkeit, Auf und Abs, Streitereien und Aufregungen zwischenmenschlicher Natur und doch verrät sie so viel über die Entwicklung eines Dorfes und der Landwirtschaft. Diesen Wandel, der nicht nur in Brinkebüll, sondern eigentlich überall Einzug hielt und das Leben veränderte. Ich als einstiges Dorfkind, kann mich noch genau an frühere Besuche im Konsum erinnern und das rege Treiben im Dorf. Nun ist alles irgendwie anders, komplett eingeschlafen, beinahe ausgestorben. Daher ist mir dieser Roman nachträglich auch noch so nah. 
Allerdings war ich nicht immer so begeistert, denn nach einem gelungenen Einstieg zog sich für mich die Geschichte sehr in die Länge und ich hatte die Lust am Lesen verloren. Mir fehlte die Handlung und obwohl die Geschichte rückblickend das Landleben so real und großartig porträtiert, konnte Dörte Hansen mich in dem Moment einfach nicht packen. Mir fehlte einfach der notwendige Funken einer Vorahnung wie es weitergehen würde oder ein Rätsel, Frage, irgendwas im Raum stehendes, was einen auf die fortschreitende Erzählung neugierig macht. Und da war einfach nichts. Nun kann ich sagen, dass ich sehr froh bin, dass ich dato nicht deprimiert abgebrochen habe, denn was sich dann entwickelte hat mich in vielerlei Hinsicht komplett mitgerissen und emotional berührt. Ich möchte dazu jetzt gar nicht mal so viel erzählen, da ich von dem recht kurzen  Handlungsstrang nicht allzu viel verraten möchte, außer: Es lohnt sich! Dieses Buch ist wie ein selbst aufgenommene Musikkassette, bei dem jedes Lied, jedes Kapitel seine besonderen Ecken und Kanten hat. Ein Fotoalbum, eine Erinnerung an damalige Zeiten und daher muss ich dieses Buch einfach jedem ans Herz legen, der ursprünglich aus einer ländlicheren Region stammt oder sich für eine warmherzige, schöne, charakterstarke Geschichte einlassen kann.

Kommentare

Sursulapitschi kommentierte am 26. Februar 2019 um 20:09

Ein sehr treffendes Bild mit der Musikcassette. :-)