Rezension

Ein düsteres Psychodrama um Schuld und Sühne von ungeheurer Sogkraft. Grandios!

Geständnisse - Kanae Minato

Geständnisse
von Kanae Minato

Bewertet mit 5 Sternen

Als ich Geständnisse von Kanae Minato in der Verlagsvorschau entdeckte, wusste ich nicht, dass das Buch bereits 2010 verfilmt wurde und 2011 auch in den deutschen Kinos lief. An mir ist dieser Film jedenfalls vollkommen vorbeigegangen, aber da ich ohnehin immer erst das Buch lesen möchte, bevor ich mir die Verfilmung anschaue und die deutsche Übersetzung der Buchvorlage erst im März 2017 erschien, war ich ganz froh, diesen Roman nun völlig unvoreingenommen entdecken zu können.
Mich hat Geständnisse von Kanae Minato vollkommen überrascht, denn was auf dem Klappentext zunächst nach einem recht gewöhnlichen Roman mit Thrillerelementen und einer nicht gerade besonders neuen Grundidee klang, entpuppte sich als ein außergewöhnlich düsteres, tiefgründiges und verstörendes Psycho- und Sozialdrama und war in jeder Hinsicht nicht nur anders, sondern vor allem viel besser, als ich es erwartet hätte.
Die Erzählung beginnt mit der Rede, die Moriguchi am letzten Schultag vor den Ferien vor ihrer Klasse hält. In ihrer Abschiedsrede verkündet sie, dass sie nach dem Tod ihres Kindes nun beschlossen hat, die Schule zu verlassen und dem Lehrerberuf den Rücken zu kehren, erläutert aber auch, warum sie überhaupt Lehrerin geworden ist. Erst am Ende ihrer Ansprache beschuldigt sie zwei Schüler ihrer Klasse, ihre kleine Tochter ermordet zu haben. Obwohl sie keine Namen nennt, wissen die beiden Betroffenen und auch deren Mitschüler sofort, wen Moriguchi für den Tod ihres Kindes verantwortlich macht. Schockiert stellt sie fest, wie gelassen und ungerührt die beiden Täter ihren Worten folgen. Doch das ändert sich, als sie die Bombe platzen lässt und ganz sachlich und unverblümt ihren genauen Racheplan offenbart. Sie glaubt nicht an eine angemessene Bestrafung vonseiten der Justiz, aber es geht ihr ohnehin nicht um Gerechtigkeit, sondern um Rache, Vergeltung, echte Reue und Erkenntnis der Schuld. Bereits die ersten Seiten sind äußerst verstörend, denn Moriguchi ist bei ihrer Ansprache völlig emotionslos, kühl und nüchtern. Ihre Rache ist erbarmungslos, abgrundtief böse, aber auch eine Art Lehrstück, das jedoch nicht nur darauf abzielt, die Mörder ihrer Tochter zur Besinnung zu bringen und ihre Tat zu bereuen, sondern die beiden Jugendlichen systematisch zu zerstören und zu vernichten – psychisch und auch sozial. Trotz der Nüchternheit und Kälte, die in Moriguchis Worten mitschwingen und trotz der Gnadenlosigkeit, mit der sie ihren Rachefeldzug führt, hat mich ihre Ansprache tief berührt. Ich konnte erschreckend gut nachvollziehen, was sie empfindet und warum sie auf diese Weise Vergeltung üben will.
Somit werden also bereits im ersten Kapitel Tat, Täter und auch Moriguchis Rachepläne enthüllt. Man könnte also meinen, dass die Geschichte nun vollständig erzählt ist, da alles Wichtige schon erwähnt wurde, aber die Hintergründe der Tat, die Motivation der Mörder sowie die Folgen, die Moriguchis spezielle Rachepädagogik nach sich zieht, offenbaren sich erst im weiteren Verlauf der Erzählung und werden nun aus verschiedenen Perspektiven geschildert.
In den folgenden Kapiteln kommen weitere Beteiligte zu Wort – eine Mitschülerin, eine Mutter sowie die Schwester eines Täters und auch die beiden Mörder selbst. Mit jedem Perspektivwechsel kommen neue Details an die Oberfläche und ergeben sich neue Blickwinkel auf die Tat und auch auf die Auswirkungen von Moriguchis Rache. Dies führt natürlich zu Wiederholungen, denn dieselben Geschehnisse werden dabei immer wieder aufs Neue, aber eben aus einer anderen Perspektive erzählt. Dennoch ist der Roman niemals langweilig, denn gerade die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ereignisse und ihre Hintergründe machen den eigentlichen Reiz dieser Erzählung aus. Mit jeder weiteren Erzählperspektive und mit jeder neuen Version der Geschichte verschwimmen auch die Grenzen zwischen Täter und Opfer immer mehr, denn obwohl die Tat der beiden jugendlichen Mörder verabscheuungswürdig bleibt und durch nichts gerechtfertigt wird, sind auch sie Opfer. Sie sind nicht nur Opfer von Moriguchis Rache, die sie zunehmend vernichtet, sondern vor allem Opfer einer außerordentlich leistungsorientierten Gesellschaft. Dennoch war es mir nicht möglich, Mitleid für die beiden Jugendlichen zu empfinden, denn für ihr Verhalten und ihr abscheuliches Verbrechen gibt es keine Entschuldigung, höchstens eine Erklärung.
Die Autorin gewährt in Geständnisse sehr tiefe Einblicke in das japanische Schulsystem und die japanische Leistungsgesellschaft, in der das Streben nach Erfolg und ein geradezu übermächtiger Druck, stets der Beste sein zu müssen, recht bizarre Formen annehmen und zu Vereinsamung, Narzissmus, Aggressionen, psychischen Störungen und zerrütteten Familiengefügen führt. So beschreibt Kanae Minato in ihrem Roman auch sehr präzise das Phänomen des „Hikikomori“. Bei diesem Begriff handelt es sich um den japanischen Fachausdruck für eine besondere Form der Sozialphobie. Er bezieht sich auf Personen, überwiegend auf Jugendliche, die sich vollkommen von der Gesellschaft zurückziehen, das Haus ihrer Eltern nicht mehr verlassen und aus Angst, sich immer mit anderen messen zu müssen, dabei zu versagen und dem Druck nicht gewachsen zu sein, keine sozialen Kontakte pflegen und sich vollständig isolieren.
Die Einblicke in diese, für mich bislang vollkommen fremde Kultur haben mich überaus fasziniert und auch sehr nachdenklich gestimmt. Sicherlich ist vieles, was in diesem Roman thematisiert wird, dem japanischen Schulsystem und der extrem leistungs- und fortschrittsorientierten japanischen Gesellschaft geschuldet, aber ich würde trotzdem nicht so weit gehen, zu behaupten, dass die angesprochenen Probleme nur in Japan und nicht auch bei uns zu finden sind. Das Hauen und Stechen an Schulen, Hochschulen und auch im Beruf, Mobbingattacken, mit denen die Konkurrenz ausgeschaltet werden soll, der enorme Leistungsdruck angesichts stetig wachsender Anforderungen und die teilweise geradezu krankhafte Sucht nach Anerkennung und Erfolg sind auch in unserer Gesellschaft tagtäglich zu sehen und nehmen mitunter beängstigende Ausmaße an.
Mich hat dieser Roman sehr erschüttert und tief bewegt. Neben dem raffinierten Spiel mit unterschiedlichen Perspektiven und den faszinierenden Einsichten in die japanische Gesellschaft, hat mich vor allem auch der nüchterne, lakonische Erzählstil der Autorin begeistert, denn gerade dadurch gewinnt das Erzählte eine ungeheure Intensität. Völlig frei von Sentimentalität und ohne effekthascherische und reißerische Töne, gewährt Kanae Minato Einblicke in die tiefsten und bösesten Abgründe der menschlichen Seele.
Geständnisse ist ein äußerst düsterer Roman, der wenig Optimistisches aufweist und auch mit keinem versöhnlichen Ende aufwarten kann. Auf die melancholisch-deprimierende Grundstimmung muss man sich ebenso einlassen können wie auf die fremde Kultur. Mich hat Geständnisse von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt und vollkommen in seinen Bann gezogen. Zweifellos hat dieses großartige Buch jetzt schon die besten Aussichten, eines meiner Jahreshighlights zu werden. Ein grandioser Roman um Schuld und Sühne, Rache und Vergeltung von ungeheurer Sogkraft!