Rezension

Ein eindrucksvoller Coming-of-Age Roman in einer wundervoll lebendig-rotzigen Sprache...

Dieses ganze Leben -

Dieses ganze Leben
von Raffaella Romagnolo

Bewertet mit 5 Sternen

Paola passt nicht in diese Welt, findet sie. Wo Glanz und Erfolg das Maß vorgeben, hält sie sich lieber an ihren Bruder, der im Rollstuhl sitzt, gerne Schach spielt und auf Likes pfeift. Auf Verordnung ihrer Mutter muss Paola täglich mit Richi an die frische Luft. Eine gute Gelegenheit, der Enge der elterlichen Villa zu entfliehen und Gegenden zu erkunden, wo Paola das wahre Leben vermutet – das so ganz anders ist, als sie dachte. 

 

"Mit einer Lüge zu leben ist für eine Wahrheitsfanatikerin wie mich ungefähr genauso, wie für eine Vegetarierin, bei McDonald's zu essen."

 

Paola sieht um sich herum nur Lug und Trug, was zählt, ist die Fassade. Unerträglich für eine 16-Jährige, die sich nicht wohl in ihrer Haut fühlt. Paola muss ihren Bruder täglich in seinem Rollstuhl durch die Gegend schieben, damit sie nicht dick wird - so die Verordnung der Mutter. Jenseits der Hecke, die das schicke Einfamilienhaus umgibt, in der Peripherie der Fabrikhallen und des sozialen Wohnungsbaus, erkundet Paola zusammen mit Richi eine Welt, die ihr zunächst fremd ist. Und doch erfährt sie dort endlich die ganze Wahrheit - über ihre Familie und sich selbst...

Dieser Roman gefiel mir richtig gut. Der Ton rotzig-lakonisch, bietet die Erzählung Raum für die Wut eines heranwachsenden Mädchens in der Pubertät. Die Ich-Erzählerin findet sich selbst fett und hässlich, widersetzt sich den Anweisungen und Erwartungen der Eltern - v.a. der Mutter - und wirkt (z.T. selbst gewählt) sehr einsam. Nur mit ihrem Bruder zusammen, die eine Stunde am Tag, kann sie am ehesten die sein, die sie ist. Antonio, ein Schulkamerad, der aus einer ganz anderen sozialen Welt kommt, scheint ein echtes Interesse an ihr zu haben. Doch Paola ist in einer ständigen Hab-Acht-Stellung, so selbstverständlich erwartet sie schon die Verletzungen, die ihr von allen Seiten zugefügt werden. Sie scheint bei allem Trotz und aller lakonischen Haltung doch sehr empfindsam zu sein.

Erzählt wird hier von einer problematischen familiären Konstellation: die Mutter nur an Oberflächlichkeiten interessiert, der Bruder im Rollstuhl, der Vater nur zeitweise präsent und wenn, dann kaum mit Interesse an der Familie. Das Herz der Familie ist Richies Pflegerin Nina, die zumindest immer ansprechbar ist. Paola fühlt sich jedenfalls von ihren Eltern nicht wahrgenommen:

 

"Wenn du mich anschaust, siehst du nur die Kleidergröße, die ich trage." (S. 105) 

 

Ein wenig wirkt der Roman als würde Paola ihrem Tagebuch einzelne Szenen ihres Lebens anvertrauen. Erzählt wird flott und lebendig, in einer von Ironie und Zynismus geprägten rotzigen Sprache. Und obwohl hier auf Gefühlsduselei oder Sentimentalität verzichtet wird, erahnt der Leser die emotionale Lage von Paola. Sarkasmus statt Schmerz - doch ab und an blitzt er eben doch durch.

Das Geschehen, das sich hier entwickelt, bricht die Fassaden auf, sowohl in der Familie als auch bei Paola selbst. Das Ende des Schweigens, endlich Wahrheiten - und ein langsames Umdenken in vielerlei Hinsicht. Eine Entwicklung, die in einem offenen Ende mündet und doch hoffnungsvoll ist, für mich genau passend...

Ein eindrucksvoller Coming-of-Age-Roman, dem ich eine volle Leseempfehlung gebe!

 

© Parden