Rezension

Ein extravagantes, innovatives Leseerlebnis

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 5 Sternen

Die schrecklichen Augen der lauernden Hyäne

„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, das ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“

Inhalt

Die Erzählerin der Geschichte ist zunächst nur ein 10-jähriges Mädchen, die verborgen hinter einer gutbürgerlichen Fassade in einer einheitlichen Reihenhaussiedlung gemeinsam mit ihrem kleineren Bruder Gilles aufwächst. Der Vater ein passionierter Großwildjäger und Trinker, der das Leben seiner Familie als Buchhalter finanziert, sich aber in der geschützten Privatsphäre zu einem gewalttätigen, gefährlichen Mann entwickelt, der seine erlegten Beutetiere ausgestopft in einem extra Zimmer der Wohnung deponiert.

Das Mädchen hat nur ein Ziel: irgendwie dem häuslichen Wahnsinn entkommen und dabei ihren kleinen Bruder beschützen, der sich im Laufe der Jahre immer mehr für die Waffensammlung des Vaters und die getöteten Tiere interessiert. Als in der Gegend alle Katzen verschwinden und sie Gilles beim Quälen verschiedener Tiere beobachtet, schwört sie sich, dass ihr Leben eine Wende nehmen muss, damit die schrecklichen Augen der lauernden Hyäne aus dem Jagdzimmer nicht noch mehr Schaden im Kopf ihres Bruders anrichten.

Sie stürzt sich voller Enthusiasmus auf den Bau einer Zeitmaschine, mit der sie in die Vergangenheit reisen möchte, um wenigstens Gilles vor all der Brutalität und den ungesunden Entwicklungen zu schützen. Erst als sie etwas älter ist, entdeckt sie die wahre Gefahr und rückt immer mehr ins Visier ihres Vaters, der mit dem Sohn mittlerweile eine Einheit bildet und sie fürchtet bald schon um ihr eigenes Leben. Doch in der Rolle des Opfers hat sie sich nie gesehen …

Meinung

Nachdem ich die Leseprobe des Romans gelesen hatte, war ich mir eigentlich unsicher, ob der Text und die Thematik überhaupt etwas für mich sein könnten. Denn schon nach den ersten Seiten wird deutlich, dass Gewaltszenen und Brutalität hier ganz wesentliche erzählerische Elemente darstellen und wohl auch der folgende Text in dieser Ausrichtung gestaltet sein würde. Dennoch habe ich mich ohne besondere Erwartungshaltung und relativ unbedarft an diesen Coming-of-Age-Roman gewagt, um den „Liebling der französischen Buchhändlerinnen“ zumindest kennenzulernen.

Und dann hat mich die Story regelrecht überrascht und mich unweigerlich in ihren Bann gezogen, so dass ich für dieses Buch gerade einmal einen Tag Lesezeit benötigt habe und entgegen meiner ursprünglichen Befürchtungen ein grandioses Stück Literatur geboten bekommen habe.

Ganz klar: inhaltlich bewegt sich „Das wirkliche Leben“ ganz sicher nicht in meiner Wohlfühlzone, dominieren doch Gewaltszenen, Tierquälerei, zerrüttete Familienverhältnisse und die schier unvorstellbare Dominanz des Bösen über das Gute. Aber der belgischen Autorin meines Geburtsjahrganges ist es gelungen, eine wahnsinnig stimmige Geschichte zu erschaffen, die in erster Linie durch die Charakterstärke ihrer Protagonistin und deren Unverbesserlichkeit dem häuslichen Umfeld zu entkommen, besticht. Die geschilderten Sachverhalte waren manchmal nah dran, mich gänzlich zu schockieren und besitzen doch eine magische Anziehungskraft.

Besonders eindrücklich schildert Adeline Dieudonné die Entwicklung eines 10-jährigen Mädchens, die jeden Tag die Prügelei des Vaters an der Mutter hinnehmen muss, die sich selbst ducken und verstecken muss, um nicht seinen Gewaltausbrüchen ausgesetzt zu sein und die ihren geliebten Bruder, den einzigen Menschen, dem sie restlos vertraut beschützen möchte. Ihre Luftgespinste mit einer Zeitmaschine lösen sich bald auf, doch ihr Interesse für Physik und die Naturgesetze, bieten ihr die Chance sich bald auch außerhalb der Familie neue Eindrücke zu verschaffen. Und als sie am Ende des Buches mit 15 Jahren alles gesehen zu haben scheint, was es an Machtdemonstration geben kann, ist sie sich doch bewusst, dass sie nicht dazu geboren wurde, für immer in der Rolle des Opfers zu bleiben. Und als ihr monströser Vater zum alles vernichtenden Schlag ausholt, ist sie ihm im wirklichen Leben schon längst entwischt …

Fazit

Dieser ungewöhnliche, einprägsame Roman konnte mich absolut überraschen und lebt durch die grandiose Gestaltung der diversen Figuren, die man alle direkt vor dem inneren Auge sieht. Ebenso gelungen empfand ich die Szenenwechsel, die Gestaltung der Handlung, den Ablauf der Zeit in Anbetracht des Heranwachsens der Hauptprotagonistin – kurzum die Rahmenhandlung nach klaren Vorgaben, die dennoch überhaupt nicht absehbar war.

Der Leser wird langsam herangeführt an die Gedankengänge des Mädchens, spürt die komplette Bandbreite ihrer Emotionen und bewundert immer mehr ihren Sinn, sich der schrecklichen Realität zu widersetzen. Ein richtiger Pageturner, dem ich gerne 5 Lesesterne schenke und ihn als ein faszinierendes Leseerlebnis in Erinnerung behalten werde. Selbst wenn er nicht von Realitätsnähe und Allgemeingültigkeit geprägt ist und in erster Linie auch keinen literarischen Anspruch erhebt, gelingt es ihm, die Spannungsmomente auszureizen und trotz aller Gewalt zeigt er vielmehr die verborgenen Gefühle hinter den Machtspielchen kranker Seelen als die Schäden die Schläge hinterlassen können.

Sehr unverbraucht, sehr innovativ – ich schließe mich den positiven öffentlichen Meinungen über dieses Debüt an und sortiere es als Highlight 2020 ins Bücherregal.