Rezension

Ein familiärer Neubeginn in den 50er Jahren

Findelmädchen -

Findelmädchen
von Lilly Bernstein

Bewertet mit 5 Sternen

Sofern man bereits den Roman "Trümmermädchen" der gleichen Autorin kennt, so lernt man nun im "Findelmädchen" das Schicksal der Kinder von Anna, Hauptperson des ersten Bandes, kennen und kann Helga und Jürgen ein wenig durch das Köln der 50er Jahre begleiten. Dabei wird mit sehr viel schriftstellerischem Hintergrundwissen der Wiederaufbau Deutschlands, aber auch die damit verbundenen Herausforderungen der Nachkriegszeit im individuellen Alltag aufgezeigt und lebensecht dargestellt.

Helga und Jürgen, die nach dem spurlosen Verschwinden und dem noch immer im Krieg vermissten Vater bei nahen Verwandten in Frankreich sicher und behütet aufwachsen, erhalten die freudige Nachricht, dass der Vater nicht nur lebt, sondern nach Deutschlang zurückgekehrt ist. Schnell sind sie wieder vereint und versuchen, ihr Leben neu zu organisieren. Dies beinhaltet vor allem für die beiden Kinder, sich mit einer beruflichen Zukunft auseinanderzusetzen, wobei Helga leider sehr schnell leidvoll feststellen muss, dass ihre Vorstellungen in keinster Weise mit den Plänen ihres Vaters übereinstimmen. An Stelle des erhofften Besuchs eines Gymnasiums muss sie sich mit der damals üblichen maximalen Schulausbildung für junge Mädchen, das Absolvieren einer Haushaltungsschule, zufriedengeben. Die zu dieser Ausbildung gehörende praktische Abschnitt verbringt Helga in einem Waisenhaus und wird dort immer öfter mit den psychischen und physischen Misshandlungen der dunkelhäutigen kleinen Bärbel konfrontiert, was sie nicht unbeteiligt nur zur Kenntnis nimmt, sondern nach Möglichkeiten such, diesem ein Ende zu bereiten.

Auch wenn Helga's Geschichte viel Raum einnimmt, so kommen weitere Charaktere wie der Vater mit seiner bisher unbekannten, aber sehr erhellenden Vergangenheit, und auch die Mutter, sehr geschickt immer mal wieder in die Geschichte eingewoben mit Tagebucheinträgen, sodass sich manche Frage beantworten lässt. Darüber hinaus finden sich einige weitere sehr interessante Charaktere, die wie alle anderen Protagonisten auch, mit sehr viel Empathie ins Leben gerufen wurden und mit denen sich zu identifizieren sehr leicht fällt. Jedes einzelne Schicksal, jede individuelle Lebenswegentscheidung und –entwicklung wird überzeugend, sehr verständlich und realistisch dargestellt – ein wunderbarer Lesegenuss und auch dank des flüssigen und leichten Schreibstils wird dieser Roman einer meiner diesjährigen Lesehighligts werden. Wobei einmal mehr auch in diesem Roman die schwierige und mühsame Selbstverwirklichung junger Frauen, aber auch die gesellschaftliche Erwartungshaltung, auf eine sehr unterhaltsame und fesselnde Weise dargestellt wird. Ein Grund mehr, in der heutigen Zeit leben zu können.