Rezension

ein faszinierend anderes Buch, das zu fesseln und verwirren weiß

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa - Benjamin Constable

Die drei Leben der Tomomi Ishikawa
von Benjamin Constable

Zitat:
„Ich bin sicher, dir ist zumindest kurz durch den Kopf gegangen, dass die Mühe, die es erfordert, einen Brief zu schreiben und ihn auf den Weg zu schicken, auf einen bedeutenswerteren Anlass hinweist als lediglich auf den Versuch, mir in einer schlaflosen Nacht die Zeit zu vertreiben, auf einen dringlicheren Inhalt als den Wunsch, dir mit einem Beweis dafür zu schmeicheln, dass ich gerade an dich gedacht habe.“
(S. 14)

„Wenn du ein Leben ausgelöscht hast, zerbrichst du entweder an dem Schmerz, sobald dir die Schwere deiner Tat bewusst wird, oder du schlägst eine neue Seite auf und machst einfach weiter. Doch niemals wirst du der neuen Gewissheit entfliehen, dass weder Gott noch die allzu leicht veränderlichen Gesetze der Menschen ein Leben beschützen können; unser Dasein, so fragil, wird durch nichts geschützt als durch unser Vertrauen in das Gute – eine Lage so dünn wie Zellstoff. Der Tod lauert in jedem von uns.“
(S. 223)

Inhalt:
Ein Brief seiner Freundin Tomomi Ishikawa, genannt Butterfly, erreicht Ben Constable. Darin steht, dass Tomomi zu dem Zeitpunkt, in dem Ben diesen Brief liest, bereits tot sein wird.
In Butterflys Wohnung findet Ben eine weitere Nachricht. Er soll sich aus dem Kühlschrank bedienen und ihren Laptop mitnehmen.

Beim Durchsuchen ebenjenem findet Ben allerhand auf den ersten Blick „unnütze“ Dateien, tausende Fotos und Recherchen über Plätze in Paris, sowie einen Ordner mit dem Titel „Meine Toten“, in dem es neben einigen anderen auch ein Unterverzeichnis „Ben Constable“ gibt.

Erst Tomomis E-Mail-Account bringt etwas mehr Klarheit. Sie hat ihm auf diese Weise Häppchen zugeworfen, durch die er sie besser kennenlernen wird. Ein Rätsel, ein Abenteuer und zugleich eine Beichte.

Meinung:
Ein Buch, bei dem Protagonist und Autor denselben Namen tragen? Klingt sehr interessant.
Hin- und hergerissen, ob dieses Buch etwas für mich sein könnte, wartete ich gespannt auf die ersten Rezensionen, die durchweg begeistert waren. So konnte ich natürlich nicht lange warten und musste mich ebenfalls in „Die drei Leben der Tomomi Ishikawa“ stürzen.

Der Einstieg war für mich etwas holprig und überraschend. Denn die Sprache hat mich ziemlich irritiert. Die kurze „Einführung in alles“ ließ mich bereits die Augenbrauen anheben, bei DEM Brief fühlte ich mich anstelle des angegebenen Jahres 2007 eher in der feinen englischen Gesellschaft längst vergangener Jahrhunderte wieder, so „geschwollen“ war die Ausdrucksweise. Schier endlose Sätze und Abschweifungen, nicht gerade alltagsgebräuchliche Wörter und Beschreibungen haben mich fürs erste schockiert zurückgelassen und ich hoffte inständig, dass sich diese „besondere“ Art nicht durch das ganze Buch zieht. Es hat mich so eiskalt erwischt, dass ich sogar kurzfristig an eine Unterbrechung dachte…

Wie bereits erwähnt beginnt alles mit dem Brief von „Butterfly“ Tomomi Ishikawa an Ben Constable, in dem sie ihm mitteilt, dass sie sich das Leben nehmen wird, dass sie für ihn aber eine Überraschung vorbereitet hat, an der sie schon seit ihrer Kindheit arbeitet.
Aber wo genau diese Überraschung steckt, verrät sie nicht. Stattdessen erinnert sie noch einmal an die schönsten gemeinsamen Erlebnisse und Träume.

Im Anschluss schwenken wir zu Bens Sicht, lernen den 38-jährigen ein wenig besser kennen, was bei mir auch kurzfristig für Verwirrung über die Zeitform sorgte. Er erzählt die gesamte Geschichte in Ich-Perspektive. Allgemeine Dinge, Regeln und Verhaltensweisen, die immer Gültigkeit haben, beschreibt er im Präsens, den Rest, die „eigentliche“ Geschichte ist in Vergangenheit verfasst. Diese Mischung schuf eine direkte Verbindung zu Ben, als würde er mir seine Geschichte persönlich erzählen.

Nachdem die Einstiegsprobleme beseitigt waren, erlebte ich, was Ben beim Lesen des Briefes und direkt im Anschluss fühlt und wie er reagiert. Ich wurde direkt in sein Leben gezogen und machte mich gemeinsam mit seiner imaginären Katze Cat (ja, richtig gelesen) auf die Jagd nach Hinweisen, ergründete die Vergangenheit von Tomomi Ishikawa und brachte schockierende Details zutage.

„Die drei Leben der Tomomi Ishikawa“ ist kein Buch für nebenbei. Abgesehen von der Sprache (an die ich mich dann aber erstaunlich schnell gewöhnte) in Butterflys stets kursiv gedruckten Nachrichten, wimmelt es in der Geschichte von kleinen Details, die in Nebensätzen erwähnt, kaum Beachtung erfordern, im Nachhinein aber das Gesamtbild ergänzen. Sei es die imaginäre Katze, Briefe aus Tomomis Ich-Perspektive, die dann aber gleichzeitig in die Gedankenwelt anderer eintauchen, als könne Tomomi Gedankenlesen, oder die vielen stehengebliebenen Uhren, die zu zahlreichen Interpretationen führen können.
Ich sage bewusst Interpretationen, weil ich selbst nur über alles mutmaßen kann. Denn bis kurz vor den letzten Seiten dachte ich noch, ich hätte alles durchschaut, was der Autor mit dem gewählten Ende aber zunichtemachte. So stieß ich oft auf Ungereimtheiten, von denen manche im weiteren Verlauf doch noch Sinn machten, Dinge, die sich erst rückblickend ins rechte Licht rückten.

Auch die Charaktere in „Die drei Leben der Tomomi Ishikawa“ sind alles andere als normal und haben alle ganz besondere Eigenschaften. Beispielsweise kann sich Ben Constable keine Gesichter merken, er leidet an Prosopagnosie. Tomomi hingegen hat eine ganz spezielle Vergangenheit, die ich SO noch nie irgendwo gelesen habe. Und trotz dem Ernst der Lage gibt es durchaus Passagen zum Schmunzeln. Seien es Verständigungsprobleme (Fisch!), die später wieder aufgegriffen und in den „Alltagsgebrauch“ einflossen, oder nüchtern betrachtet „sinnlose“ Gespräche, die vor trockenem Humor nur so strotzen.

Alles in Allem übt dieses Buch eine wahnsinnige Faszination auf einen aus. Ich konnte nicht mit dem Lesen aufhören, wollte mich weiter auf die Jagd nach dem nächsten Hinweis machen, in die Untiefen von Tomomi Ishikawas Vergangenheit abtauchen, erfahren, wie der Autor sich immer weiter verstrickt, mich selbst an anfänglichen „Tatsachen“ zweifeln ließ. Auf diese Weise übte er einen unheimlichen Lesezwang auf mich aus, ehe ich das Buch nicht weniger verwirrt als zwischendurch zuklappte…

Und im Nachhinein macht auch der Titel durchaus Sinn…

Urteil:
Nach den ersten Seiten war ich kurz davor, „Die drei Leben der Tomomi Ishikawa“ auf „später“ zu verschieben. Zum Glück hab ich es nicht getan. Denn ich hätte ein ganz besonderes Buch verpasst, das einen Grübeln und Mitfiebern lässt, für den ein oder anderen Lacher sorgt und Spekulationen über Wahrheit und Fiktion nahezu herausfordert. 4 Bücher für Ben Constable auf der Jagd nach „Butterfly“ Tomomi Ishikawas Vergangenheit.

Wer nach einer etwas „anderen“ und „besonderen“ Geschichte sucht, ist hier an der richtigen Stelle. Euch muss jedoch klar sein, dass ihr vielleicht ebenso ratlos sein könntet wie auch ich, und noch längere Zeit das Bedürfnis habt, über dieses Buch zu sprechen.

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