Rezension

Ein faszinierendes Debüt

Der Brief
von Carolin Hagebölling

Bewertet mit 4 Sternen

Marie ist verstört als sie einen sonderbaren Brief in den Händen hält. Das Schreiben ist an sie adressiert und die Absenderin ist ihr bekannt. Dennoch scheint er aus einem ganz anderen Leben zu sein. Denn in diesem Brief lebt sie in Paris, ist verheiratet und hat sogar ein Kind. Aber wie kommt das, wenn sie doch in Hamburg wohnt?

"Der Brief" ist ein raffinierter Roman, der mit verschiedenen Realitätsebenen spielt. Zwar ist er weit von einem Thriller entfernt, regt dennoch zum Grübeln und Nachdenken an.

Was wäre, wenn man sich an einer Abzweigung des Lebens anders entschieden hätte? Was wäre geschehen, wenn man statt zuhause zu bleiben an jenem Abend ausgegangen wäre? Wie hätte sich der eigene Weg entwickelt, wenn man sich vor Jahren für Paris entschieden hätte?

Mit diesen oder ähnlichen Fragen wird Marie konfrontiert als sie den merkwürdigen Brief in den Händen hält. Er stammt von einer alten Schulfreundin und ist an sie geschrieben und adressiert. Aber das Leben und die Fragen darin widersprechen der Realität. 

So beginnt Marie dem Geheimnis hinter dem Brief auf den Grund zu gehen. Diese Reise führt sie in ihre Vergangenheit bis hin zu einer möglichen Zukunft in Paris, die im Brief jedoch schon Vergangenheit ist.

Marie ist Anfang Dreißig und hat auf mich den Eindruck einer ruhigen, gefestigten Person gemacht. Sie lebt in einer Beziehung, arbeitet als Journalistin und hat Hamburg als Heimatstadt für sich entdeckt. 

Zu Beginn tut sie das mysteriöse Schriftstück natürlich als bösen Streich und Humbug ab. Allerdings lässt es ihr keine Ruhe, schon gar nicht, als weitere Briefe ankommen. 

Ich mochte diesen Roman gern, weil die Atmosphäre sehr fesselnd ist. Laufend habe ich gegrübelt, was denn hinter den Briefen stecken könnte und über eine realistische Ursache nachgedacht. Genauso macht es Marie, die sogar kreativer als ich ist, weil sie etliche Möglichkeiten durchdenkt. 

Allerdings habe ich die Figuren eher als Statisten empfunden, weil sie nicht besonders in die Tiefe gehen. Zumindest entsprechen sie nicht üblichen Klischees, was über die glatte Oberfläche hinwegtröstet.

Hauptsächlich spielt ein philosphischer Grundton rein, der sich mit alternativen Lebenswegen beschäftigt. Denn die Thematik orientiert sich stark am  "Was wäre, wenn ..?" und wirft unterschiedliche Perspektiven auf Maries Entscheidungen. 

Trotz des ruhigen Erzählstils hat mich dieses Gedankenspiel an die Seiten gebannt. Es gefällt mir, dass die Autorin nicht in Richtung Mystery abdriftet sondern ganz und gar bei ihrem philosophischen Ansatz bleibt. 

Das Ende hat mir gefallen und ist passend gewählt. Zwar lässt es etliche Fragen offen, dafür stupst es das Gedankenkarussell ordentlich an. Auf diese Weise kann man selbst entscheiden, was denn nun wirklich geschehen ist. 

Insgesamt ist „Der Brief“ ein faszinierendes Debüt, das den Leser zum Philosophieren und Grübeln bringt, gerade weil das Ende offen ist.